Stefan 'Sterni' Mösch
Enrico der Verlierer
Eine Erzgebirgstragödie
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Am Freitag morgen gab sich Lehrer Langbein seinen Zöglingen gegenüber ziemlich einsilbig. Er verzichtete diesmal auf sein Motivationstraining, also auch auf das Singen des Betriebsliedes. Stattdessen übergab er seinem immer kleiner werdenden Häuflein – zwei hatten sich nämlich in den beiden letzten Tagen bei ihrem Jobtrainer krank gemeldet, drei weitere waren ohne jegliche Vorankündigung oder nachträgliche Abmeldung vom Kampfplatz desertiert, so daß es mittlerweile nur noch sieben unerschrockene Recken und Reckinnen gab, die sich um ihren Heerführer versammelt hatten – erneut einen Stapel Instruktionspapiere mit unterschiedlichen Themenschwerpunkten. Diesmal durften die Betroffenen selbst einmal Schmiede ihres Glücks spielen und sich nach Gutdünken eine der ihnen vorgeschlagenen Zeitschriftenwerbungen auswählen. Um ihnen die Entscheidung zu erleichtern, hatte ihnen der Lehrer jeweils mehrere Exemplare des im Kundengespräch anzupreisenden Presseerzeugnisses mitgebracht. Willy drängelte sich sogleich nach vorn und wählte nach kurzem Zögern – keineswegs das Fach- und Fanmagazin „Wasser marsch! – die sächsische Brandschutz Illustrierte“ – sondern die äußerst bunt und gewagt bebilderte Junggesellenzeitschrift „Sexy Hexy“ vom Bordo-Verlag St. Paulus. Der durch Willys Schubs auf Startplatz zwei verwiesene Herr aus Thüringen geriet sichtlich in Verwirrung und fand sich nach einer Weile mit dem Heimatblatt „Bei uns do isses su schie“ vom Obererzgebirgischen Hutznverein Johanngeorgenstadt in den Händen wieder. Die auf ihn folgende perückte Dame griff sich das Volksmusikblatt „Schlagerstelldichein bei Beierlein“ vom SchmusiMusi Verlag Oberammergau, ein dickleibiger Glatzkopf entschied sich für das Hellsehermagazin „Deutsche Gauen im Sternennebel“ vom Sternburger Brauereiverlag, eine über die Maßen geschminkte Blondine freundete sich schließlich mit „Drolly Dolly – Bunte Hefte für die emanzipierte Mutti und ihre Kids“, einer feministisch angehauchten Familienzeitschrift aus Wuppertal, an. Nun blieben nur noch Enrico und das magersüchtige Mädchen übrig, um ihre Wahl zu treffen. Langbein hatte als gestrenger Lehrer natürlich nur sieben Zeitschriften im Angebot. Für die beiden lagen also nur noch das von Willy geschmähte Feuerwehrmagazin sowie eine Hundefreundezeitschrift namens „Apport – der Hundetrainer“ vom Verein Deutscher Hunde- und Köderhalter Buxtehude o.M. [ohne Maulkorb] aus. Als zuvorkommender Mensch ließ Enrico dem schmalbrüstigen Mädchen den Vortritt, das sich nach einigem Zögern für die Feuerwehr entschied. Enrico mußte sich als letzter mit dem Hundeblatt begnügen und kam sich in diesem tristen Schicksalsmoment beinahe selbst wie von Hunden angepisst vor.
Ohne seinen Zöglingen Zeit zu Diskussionen zu lassen, geleitete sie ihr Lehrer eine Etage tiefer, wo sie sich an den von ihnen am Vortag gewählten Arbeitsplätzen niederlassen mußten.
Es wurde wieder für alle ein turbulenter und stressiger Arbeitstag, nur Willy Pfeffke schien der Job diesmal wirklich Freude zu bereiten. Genüßlich in seinem Sex-Blatt schmökernd, absolvierte er einen Anruf nach dem anderen, ohne auch nur ein einziges Mal ins Stottern zu geraten. Mitunter legte er seinen Hörer, eine kurze Entschuldigung murmelnd, gleich wieder auf – nämlich in all den Fällen, bei denen ihm arglose Hausfrauen ins Netz geschlüpft waren. Dann aber führte er wieder lange Gespräche, die jedes Mal mindestens eine halbe Stunde in Anspruch nahmen und die er gewöhnlich mit einem dicken Strich auf seiner persönlichen Erfolgsquotenstrichliste eintrug.
Bei Enrico sah die Lage dagegen völlig anders aus, denn er hatte heute eine besonders harte Nuß zu knacken.
Hunde und im Speziellen deren Herrchen hatte er sein Lebtag lang noch nie gemocht, seitdem er als kleiner Junge einmal von einem Schäferhund gebissen worden war.
Etwas ehrlicher formuliert: er haßte Hund und Halter über alle Maßen und machte um beide wenn möglich stets einen weiten Bogen.
Wie sollte er es da fertigbringen, dieses „idiotische Hundeblatt“ irgendwelchen unschuldigen, ihm persönlich völlig unbekannten Herrschaften aufzuschwatzen? Doch um seine privaten Befindlichkeiten und Überzeugungen schien sich hier in dieser sauberen Firma nicht einmal ein Hundeschwanz zu kümmern.
Ganz im Gegenteil: Langbein verfolgte aus geringer Distanz eine jede seiner Bewegungen, ihn unablässig wie ein Schießhund mit Argusaugen verfolgend und immer wieder zu seinem Abhörapparat greifend – zweifellos mit der Absicht, sein Opfer diesmal vollends psychisch zu zersetzen.
Trotzdem versuchte Enrico verzweifelt, das Bestmögliche aus seinem Fiasko zu machen.
Nachdem ihm mehrere Male die Verbindung bereits nach wenigen Sekunden von empörten Kunden abgebrochen worden war, kam er endlich mit einem Herrn ins Gespräch, der ein passionierter Hundeliebhaber war, trotzdem aber offensichtlich über eine gute Portion Humor verfügte.
Alles klappte ausgezeichnet bis zu dem Moment, an dem Enrico dem Hundehalter sein eigentliches Anliegen verriet.
Doch damit hatte er in ein Hornissennest gegriffen.
Zum Eklat kam es nicht etwa, weil er es gewagt hatte, dem unbekannten Herrn ein Abonnement anzubieten – vielmehr schien dieser sogar daran interessiert zu sein, sich in Hundezuchtfragen weiterzubilden.
Was Enrico zum Verhängnis wurde, war vielmehr der ominöse Buxtehuder Hundefängerverein, der für die Veröffentlichung des von ihm angepriesenen Blattes verantwortlich zeichnete.
„Was höre ich da von Ihnen, junger Mann?“, brüllte auf einmal der unbekannte Kunde am anderen Strippenende.
„Mit diesem Tierquälerverein wollen Sie mich ködern? Da hört aber der Spaß auf, Sie Lump! Rex, Rex, faß zu …“ –
Grimmiges Hundegebell und zornige Herrchenkommandos, den Haderlumpen am Apparat in Stücke zu reißen, erschallten aus der Ohrmuschel, dazu ein Krach, als ob gerade am anderen Ende der Leitung das gesamte Frühstückstischgedeck zu Boden fallen und zu Bruch gehen würde.
Ganz starr vor Schreck, ließ Enrico seinen Hörer zu Boden sinken, während der feinhörige Langbein beinahe vom Beobachterstuhl gepurzelt wäre, weil er befürchtete, seine Trommelfelle würden platzen.
Enrico reichte es fürs erste.
Mit seinen Nerven völlig am Ende, erhob er sich von seinem Sessel, um für eine Weile Zuflucht auf der Herrentoilette zu suchen.
Nach circa zehn Minuten kehrte er wieder zurück, um sich für ein paar weitere Minuten in der Pausenecke von seinem erlittenen Schock zu erholen.
Doch dort lauerte ihn Langbein bereits auf, um ihn wegen seines unerlaubten Entfernens vom Arbeitsplatz zur Rede zu stellen.
„Herr Walther, was machen Sie denn hier um diese Uhrzeit im Pausenbereich unseres Centers?“, rief er in scheinbar verblüfftem Tone aus, mit seiner goldenen Armbanduhr dem Übeltäter direkt vor der Nasenspitze herumfuchtelnd.
„Meines Wissens nach hätten Sie doch erst in dreißig wieder Minuten ein Anrecht, hier zu faulenzen.
Und außerdem, was sollte denn vorhin gerade das Geschrei am Telefon? So können Sie doch nicht mit unseren werten Kunden umgehen, Sie Lümmel!“
„Selbst ein Lümmel“, erwiderte ihm Enrico trotzig, der sich ganz empfindlich in seiner ostdeutschen Ehre verletzt fühlte und nun auf „Sturheit“ umschaltete.
„Ich lasse mich von Ihnen nicht wie ein Stück Dreck behandeln, merken Sie sich das bitte.
Das können Sie vielleicht mit den anderen Waschlappen da drüben versuchen, aber nicht mit mir! Und jetzt lassen Sie mich gefälligst auf meinen Arbeitsplatz zurückkehren, Sie aufgeplusterter Gockel.“
Nach diesen schroffen, aber sein angekratztes Gemüt ungemein beruhigenden Worten, wollte sich Enrico schnurstracks zurück an seinen Apparat begeben.
Das wollte aber Langbein keinesfalls zulassen, schließlich war er ja soeben auf das gröbste beleidigt worden.
Und da es sich dabei um eine schamlose Anspielung auf seine gehegte und gepflegte rote Haarpracht handelte, fühlte er sich veranlaßt, zur strengsten Strafmaßnahme zu greifen, zu deren Anwendung er als übergeordnete Aufsichtsperson befugt war.
Er schrie also Enrico giftig an:
„Ich spreche Ihnen hiermit einen strengen Verweis wegen Arbeitsverweigerung in einem besonders schlimmen Falle aus.
Außerdem möchte ich Sie noch einmal dringend darauf hinweisen, daß wir in unserer Firma keine Beleidigungen von Kunden und Fehlberatungen, wie von Ihnen bereits mehrfach geleistet, zu dulden gewillt sind.
Wir sind nämlich ein seriöses Unternehmen, Sie proletarisch entarteter Bengel! Und bieten Sie gefälligst Ihre Zeitschrift mit etwas mehr Enthusiasmus feil, wenn ich Sie höflichst darum bitten dürfte.
Und jetzt zurück in Ihre Box, dalli dalli, sonst …“
„Könnten Sie mir nicht doch vielleicht eine andere Zeitschrift überlassen? Nur nicht dieses langweilige Käseblatt, das sich sowieso niemals ein vernünftiger Mensch kaufen würde.
Eine Autozeitung oder so was ähnliches, das läge mir bestimmt viel besser“, versuchte Enrico in einem letzten Loyalitätsanfall seinen Chef milde zu stimmen.
„Das könnte Ihnen so passen! Seit wann ist es denn VVV-Angestellten gestattet, sich eigene Meinungen zu bilden und selbständig Vorschläge zu machen? Sind wir denn hier in einem eurer ehemaligen heruntergewirtschafteten VEB-Betriebe!? Hier wird gemacht, was ich anordne und damit basta, Sie Klugscheißer!“
„Jawohl Herr Langschwein, dann muß ich eben meine kostbare Zeit weiter mit diesem blöden Idiotenblatt vergeuden.“
„Diese impertinente Bemerkung hat Ihnen soeben Ihren Arbeitsvertrag gekostet.
Sie können sofort Ihre Siebensachen packen und auf Nimmerwiedersehen verschwinden, Sie undankbarer Halunke.
Übrigens werde ich das für Sie zuständige Arbeitsamt über Ihr provokatives Fehlverhalten bei uns unterrichten.
Und jetzt verschwinden Sie gefälligst!“
Dies ließ sich Enrico nicht zweimal sagen. Er machte eine kleine ironische Verbeugung vor seinem Ex-Chef und stürzte hinaus, währenddem sich Langbein in stiller Gram über die Undankbarkeit der stalinistisch verzogenen ostdeutschen Bürger monierte, denen man in ihrer Hilflosigkeit doch nur beistehen wollte, wofür man aber zu guter Letzt immer nur Hohn und Mißgunst erntete. Von Selbstmitleid geplagt, wandte er sich wieder seinen hehren Aufgabe zu, der Erweckung der neuen deutschen Bundesländer aus ihrem schon viel zu lange währenden Dornröschenschlaf.
Während sich Willy Pfeffke innerhalb von wenigen Wochen zu einem Erfolg versprechenden VVV-CallMaster mauserte, dem es recht bald auch gelingen sollte, einen weit gefächerten Verwandten- und Bekanntenkreis mit Lebensversicherungspolicen, bunten Illustrierten, amerikanischen Hightech-Staubsaugern, luftigen Bausparverträgen sowie windigen Aktienpaketen zu beglücken, landete Enrico noch am selben Abend in einer finsteren Kneipe, wo er die Bekannschaft mit einem der verrufensten Trunkenbolde der Stadt machen sollte.