Stefan 'Sterni' Mösch

Enrico der Verlierer

Eine Erzgebirgstragödie

zum Kapitelverzeichnis

32

Am Dienstag wurde Egon der Vorarbeiter gleich zu Dienstbeginn von Böck zu einer dringenden „internen Lagebesprechung“ in sein Rathausbüro beortert, während der Trupp, dem Enrico und Rudi am Vortag zugeteilt worden war, mit Schubkarren und Arbeitsutensilien versehen, zu seiner Arbeitsstelle am Flußufer hinab trottete. Im Halbstundentakt tauchte ein städtischer Multicar am oberen Ende der Uferstraße auf. Der Fahrer Karl Kinast, Gewerkschaftsobmann der städtischen Arbeiter und Duz- und Skatfreund Böcks, stieg ein jedes Mal aus seinem Führerhaus, um mit in entgegengesetzte Richtungen schielenden Augen seine Reifen zu begutachten und gleichzeitig über die Uferböschung hinweg die Arbeiter unten am Fluß zu observieren. Diese waren zu seiner Befriedigung immerzu hurtig am Wühlen und provozierten mit ihren Spitzhacken, Spaten und Schaufeln einen solchen Mordskrach, daß davon gewiß die letzten Spätaufsteher in der Stadt aus den Federn gejagt wurden. Doch sobald Multi-Karl, wie Kinast von seinen Kollegen geheißen wurde, wieder abgefahren und um die nächste Straßenecke verschwunden war, stellte sich wieder ein himmlisch anmutender Frieden ein, der die soeben wachgerüttelten Langschläfer beruhigt wieder auf ihre Kissen fallen ließ – zumindest für die nächsten fünfundzwanzig Minuten.

Das Fehlen von Egon, der heute verdächtig lange beim Rapport bei Böck verweilte, wurde von Rudi sogleich strategisch klug genutzt. Geschickt setzte er seine angeborenen Führungsqualitäten ein, mit denen er bereits Anno dazumal im Gefängnis so große Erfolge erzielt hatte. Keiner wagte ihm zu widersprechen und insgeheim war ein jeder heilfroh, daß Rudi es wagte, gleich nach ihrer Ankunft am Arbeitsplatz das Kommando zu übernehmen und den Lauf der Dinge in eine für alle recht angenehme Richtung abdriften zu lassen. Er bestimmte zunächst Enrico als Kontrollposten an der Straßenecke, der durch einen lauten Pfiff die Annäherung eines jeden verdächtigen Subjektes sofort zu vermelden hatte und nach eine Stunde Wachdienst von einem Arbeitskollegen abgelöst werden sollte. Alle anderen mußten sodann ihr Werkzeug in der Nähe ihres jeweiligen Arbeitsplatzes deponieren und dann im Pausencamp unter der Brücke erscheinen, wo Rudi in aller Eile eine provisorische Betriebsversammlung einberufen hatte.
„Gearbeitet wird heute nur zu Showzwecken, um unseren Freunde vom Rathaus eine Freude zu bereiten, wenn die uns mal besuchen kommen. Doch mehr als Radau darf dabei nicht herauskommen, verstanden?“, ordnete Rudi verschmitzt grinsend an. „Und damit es niemandem während der Wartezeiten zu langweilig wird, habe ich euch Skatkarten und einen Knobelbecher mitgebracht. Ach, damit ich es nicht vergesse, für dich, Franz, habe ich auch noch eine nagelneue Decke zum Aufwärmen parat, damit du dir's darauf ein bissel komfortabel machen kannst. So krank wie du heute ausschaust, müßte ich dich eigentlich gleich zu Dr. Buschmann schicken.“
Rudi wühlte in seinem prall gefüllten Schnappsack und förderte wirklich eine Frottéedecke zutage, die noch in einer Plastikfolie steckte und die ihm sein Freund Edikus vor ein paar Tagen neben allen möglichen anderen Campingartikeln aus einem parkenden Lieferwagen „preisgünstig organisiert“ hatte. Davon erzählte er aber seinen neuen Gefährten aus moralischer Rücksichtsnahme nichts, denn ansonsten hätte sich Franz sicherlich geweigert, das Einstiegsgeschenk Wurstigs anzunehmen. Jetzt setzte sich Franz mit pfeifender Lunge auf seine provisorisch ausgebreitete weiche Unterlage, mit stolzer Miene wie ein Pascha, und holte eine Schachtel F6 aus der Manteltasche, um es sich so bequem wie möglich unter der düsteren Brücke zu machen.

Franz Wagner hätte eigentlich viel eher in ein Krankenhausbett gehört, anstatt bei dem Sauwetter unter irgendwelchen Brückenbögen wie ein Penner herumzulungern. Das wußten alle, doch wagte es keiner, ihn zum Arzt oder nach Hause zu schicken. Ersteren hätte er sowieso niemals aufgesucht, da er ohnehin schon längst ahnte, daß sein Körper von Krebszellen vollkommmen verpestet war, und zu Hause gramvoll herumsitzen wollte er auch nicht. Vor mehreren Jahren hatte er seine einzige Tochter mit ihrer ungeborenen Frucht im Leib durch einen tragischen Unglücksfall verloren. Aus dem lebenslustigen Franz, der schon alle Vorbereitungen für die geplante Hochzeit seines Töchterchens getroffen hatte, bedeutete das einen Schicksalsschlag, von dem er sich nie wieder erholen sollte. Er zog sich von seiner Umwelt in die häusliche Einsamkeit zurück und nur seiner leidgeprüften, wackeren Frau war es zu verdanken, daß er vor Kummer nicht sofort vor die Hunde ging. Trotzdem war innerhalb von drei Jahren aus dem ehemals kräftigen und gesunden Franz ein alter kranker, wackliger Mann geworden, obwohl er erst kürzlich fünfzig Jahre alt geworden war. Die Arbeit beim Strafbataillon empfand er persönlich keineswegs als Strafe. Für ihn bedeutete sie eine letzte Möglichkeit der Zerstreuung und das Ende der Maßnahme würde für ihn im Sarg enden, dessen war er sich gewiß. Rudis kleine Aufmerksamkeit bereitete ihm große Freude. Sie ließ ihn eine kurze Zeitlang seine Bitterkeit vergessen, die seinen Leib und seine Seele ganz langsam auffraß. Daß er sich heute endlich wieder einmal freute, konnte man leicht erkennen, an der Art, wie er bei jedem Lungenzug ganz selig die Augen schloß und schließlich mit vor Erregung zitternder Stimme Rudi zuraunte.
„Dank' dir auch, alter Kumpel.“
„Nichts für ungut“, erwiderte von Wurstig zu Tränen gerührt. „Machs dir hier nur so bequem wie möglich, damit du uns nicht von der Stange kippst. Übrigens war das nur meine erste Überraschung für heute. Gleich müßte …“
Da erschall plötzlich der Ruf eines Käuzchens vom Brückengeländer über ihnen her. Rudi eilte hinaus und kehrte nach eine kurzen Weile mit einem prall gefüllten Präsentkorb zurück, den ihm Assi-Lotte an einem Seil herabgelassen hatte.
„Der Himmel war euch armen, elenden Sündern gnädig und hat sich euerer Klagen erbarmt“, lachte Rudi jubilierend und brachte eine große Kanne mit Glühwein zum Vorschein, dazu belegte Brötchen und Kuchen.
„Jetzt haut aber rein, denn die Strafe des Herrn wird auf all diejenigen erbarmungslos herniederstürzen, die seine milde Gabe verschmähen“.
Und schon angelte er sich eine Mohnschnecke und verschlang sie mit einem einzigen Bissen. Auch die anderen ließen sich nun nicht länger drängen. Frohgemut fielen sie über die angebliche Gabe des Himmels her, um sich daran zu laben. Sie konnten nicht ahnen, daß es sich bei dem dargereichten Mahle eigentlich um eine unfreiwillige Spende des örtlichen Edeka-Centers handelte.

So kam es, daß Rudi und seine neuen Kollegen an diesem diesig-kalten Dienstag im Oktober den bisher schönsten Tag ihrer Arbeitsmaßnahme erleben durften. Sie lachten und waren froher Dinge und selbst die den Spionen Böcks im Halbe-Stunden-Rhythmus dargebotenen Arbeits-Shows empfanden alle als einen Riesenspaß, so daß sie erst gegen Feierabend mit Bestürzung bemerkten, daß ihr Vorarbeiter Egon noch gar nicht vom Rathaus zu ihnen zurückgekehrt war.

Egon hatte heute den deprimierensten Tag seines Lebens durchmachen müssen. Als er in Böcks Büro am Morgen zum Rapport erschienen war, fand er dort das obrigkeitliche Triumvirat versammelt sitzen, das eintretende Opfer mit Raubtiergesichtern – nein, das wäre noch zu gelinde ausgedrückt – mit böse und herzlos blickenden Inquisitatorengesichtern musternd. Oberbürgermeister, Ordnungsamts- und Sozialamtschef gingen diesmal gnadenlos mit Egon ins Gericht, ihm immer wieder seine allzu große Nachsicht und Führungsschwäche seinen unterstellten Arbeitskollegen gegenüber vorwerfend. Ab sofort habe Egon alle Disziplinlosigkeiten seines Trupps unverzüglich bei Böck zu melden, damit dieser die Verfehlungen der Betroffenen streng und ohne Zeitverzug ahnden könne. Doch dieses Mal waren sie zu weit gegangen. Egon nahm seinen ganzen Mut zusammen und weigerte sich tapfer, zu guter Letzt auch noch zum Verräter seiner Mitarbeiter degradiert zu werden. Als ihm das Diskutieren zu bunt wurde, bei dem er sowieso nicht mithalten konnte, stand er ohne ein Wort zu sagen auf, um das Rathaus eiligst zu verlassen. Er verschwand spurlos und es dauerte drei Tage, bis seine Leiche in einem Wehr der Bleiche zwanzig Kilometer stromabwärts gefunden wurde. Egon hatte einen anständigen Tod einem schändlichen Verräterleben vorgezogen.