Stefan 'Sterni' Mösch

Enrico der Verlierer

Eine Erzgebirgstragödie

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Enrico lebte fortan in ziemlich düsterer Stimmung. Da seine Frau kaum noch mit ihm sprach, verkroch er sich immer häufiger in seinen Keller, wo auch eine alte Liege stand, auf der er schließlich permanent zu nächtigen pflegte, ehe er am frühen Morgen heimlich in die Wohnung im dritten Stock zurückschlich, um sich wenigstens einmal täglich mit den überlebensnotwendigsten Errungenschaften der modernen Zivilisation zu versorgen. Die gerüchtegeilen Nachbarn durften natürlich nicht das geringste von seinem gespannten Verhältnis zu Gerda und seinem neuen Lebenswandel erfahren. Um ihren mißtrauischen Blicken und eventuellen heimtückischen Fragen zu entgehen, lauschte er jedesmal vorsichtig, ob draußen reine Luft sei, ehe er sich den Hausflur hinauf oder wieder in sein Kellerverlies hinab stürzte. Auch sein Alkoholkonsum steigerte sich beträchtlich, ohne daß sich jedoch seine Ausgaben dadurch wesentlich erhöhten, da sein Verbrauch an Lebensmitteln in dem gleichen Maße zurückging, in dem sich sein Verlangen nach Betäubung steigerte. Neben Bier und Wein griff er nun auch ab und zu zu einem kleinen Kräuterbitter, der ihn jedesmal für kurze Zeit ein wenig aufmunterte. Ums Fernsehen, die früher alltägliche Lektüre der Bild-Zeitung am Frühstückstisch, ja selbst um die Leerung des Briefkastens, der in der Hauptsache sowieso nur noch Werbemüll enthielt, kümmerte er sich schon lange nicht mehr. So passierte es, daß er den Brief vom Arbeitsamt, den ihn Gerda auf die Kommode im Vorsaal gelegt hatte, tagelang nicht zur Kenntnis nahm. Erst als ihm seine Frau den Brief eines Morgens wutentbrannt auf den Tisch krachte, als er gerade einen Kaffee und ein aufgewärmtes Brötchen mit Marmelade zum Frühstück verzehrte, nahm er die dringende Botschaft seines zuständigen Stempelamtes zur Kenntnis. Voller Schrecken mußte er lesen, daß er bereits für den 25. März zu einem Gespräch „über die Verbesserung seiner Chancen auf dem Arbeitsmarkt“ zu Herrn Schleicher vorgeladen worden war. Im Falle eines unentschuldigten Fernbleibens wurde ihm mit einer bis zu dreimonatigen Sperrung seiner Bezüge gedroht.

Noch am selben Vormittag setzte er sich von bangen Vorgefühlen geplagt in den Bus, um den bereits drei Tage zurückliegenden Termin schnellstmöglich nachzuholen. Als Ausrede für sein Versäumnis wollte er angeben, daß er sich schon seit einer Woche recht schlecht fühle, da er sich eine Grippe oder eine Erkältung zugezogen habe. Ein Blick in die Scheibe des Busses genügte, um sich auch selbst von seinem angekratzten Gesundheitszustand zu überzeugen. Zum Glück hatte er eine Tüte mit Pfefferminzbonbons einstecken. Die waren bitternötig, um keinen allzu schlechten Eindruck auf dem Amt zu hinterlassen. Denn die waren ja zu allem fähig, wenn es darum ging, ihre Opfer zu schikanieren und durch den Dreck zu ziehen.

Es dauerte bis zum späten Nachmittag, ehe er zu Herrn Schleicher vorgelassen wurde. Durch die lange Wartezeit weich gekocht und von schlimmen Vorahnungen geplagt, wurde nun der Delinquent von seinem selbtst gekürten gesellschaftlichen Ankläger mit einem zynischen Lächeln auf den Lippen empfangen und mit scheinheiligen Worten begrüßt.
„Sieh an, sieh an, der Herr Walther weilt also auch noch im Lande. Schön, daß Sie sich endlich auch mal blicken lassen. Doch ihr Termin bei mir war, wenn mich nicht alles täuscht, bereits am …“.
Er blätterte umständlich in seinem großen Kalender, dabei geräuschvoll seufzend und scheinbar betrübt seinen Kopf schüttelnd.
„Ja, sie wären schon am Montag fällig gewesen, wie ich ihnen pünktlich am Donnerstag, den 21. März per Post mitteilen ließ. Ich habe inzwischen bereits das Nötige veranlaßt. Sie bekommen wegen der Mißachtung einer behördlichen Einladung eine sechswöchige Bezugssperre und haben sich dann wieder unaufgefordert auf dem Amt zurückzumelden. Ich glaube, das wäre im Moment alles, oder haben Sie …?“
Enrico fühlte sich auf einmal ganz hilflos und klein auf seinem Stuhl. Alle seine so gründlich zurechtgelegten Entschuldigungen blieben ihm im Halse stecken. Er brachte nur kleinlaut heraus:
„Aber Herr Schleicher, ich war doch krank …“
„Mit dieser Ausrede kommen Sie bei mir nicht durch. Auch bei einem Krankheitsfalle hätten Sie sich bei uns rechtzeitig telefonisch entschuldigen müssen. Von einem Krankenschein gar nicht zu sprechen, den sie sicher auch nicht vorweisen können.“
Enrico schüttelte nur schwach den Kopf.
„Aber Herr Schleicher“, bemerkte er dann schüchtern, „meine Frau und meine beiden Kinder …“.
„Für die Kinder beziehen Sie ja Kindergeld. Das kann man Ihnen zu Ihrem Glück leider nicht kürzen. Außerdem kommen Sie diesmal noch mit einem blauen Auge davon, denn im Wiederholungsfalle haben wir sogar die Möglichkeit, Sie völlig von weiteren Arbeitslosengeldzahlungen auszuschließen. All das können Sie, wenn Sie wollen, hier in dieser kostenlosen Broschüre unseres Hauses selber nachlesen. Also sehen Sie zu, daß Sie das nächste Mal unseren Aufforderungen geflissentlich und pünktlich nachkommen, dann gibt’s auch von unserer Seite keine Probleme. Wir wollen hier doch nur Ihr Bestes.“
Nun hätte nur noch gefehlt, wenn ihm der blöde Kerl noch jovial auf die Schultern geklopft hätte. Das unterließ dieser jedoch wohlweislich. Er verabschiedete ihn lediglich mit einem trockenen „Auf Wiedersehen“ und einem unmißverständlichen Handzeichen in Richtung Korridor.

Wie ein begossener Pudel schlich Enrico aus dem Zimmer. Was sollte er jetzt nur tun, fragte er sich bange, als er langsam die Treppen vom dritten Stockwerk zum Erdgeschoß hinabstieg. Seine Frau Gerda war auf seine Zahlungen vom Arbeitsamt dringend angewiesen, da sie selbst über keine eigenen Einkünfte verfügte. Was sollte er ihr nur sagen, wenn Sie den ihr zustehenden Teil des in ein paar Tagen fälligen monatlichen Arbeitslosengeldes von ihm forderte? Nein, ein Gang zum Sozialamt war ihr keinesfalls zuzumuten, genauso wenig wie er das selbst tun würde, solange er noch einen letzten Rest von Ehrgefühl in seinem Herzen verspürte! Und zu Oma Lieselotte konnte und wollte er dieses Mal auch auf keinen Fall gehen, obwohl ihm diese ganz gewiß aus der Misere geholfen hätte. Doch das wäre ihm wie ein zweiter Diebstahl vorgekommen. Ja Diebstahl, so unverblümt betrachtete er inzwischen seinen Griff in die Brieftasche der Alten, der sich seither so fatal auf seinen Gemütszustand ausgewirkt hatte und alles noch viel schlimmer machte, wie es eigentlich schon war. Denn nun hatte er auch die Achtung vor sich selber verloren. Er mußte sich eingestehen, in Wahrheit auch nur ein ganz gemeiner Verlierer und Nichtsnutz zu sein, der der Gesellschaft nur unnötiges Geld kostete. Sein Freund Rolf hatte schon recht gehabt, wenn er damals immer wieder auf die Sozialschmarotzer geschimpft hatte, die doch nur darauf aus waren, ihm seine im Schweiße seines Angesichts verdienten Moneten aus der Tasche zu stehlen. Ja, damals im Wirtshaus beim Kartenspiel, als er noch selber Arbeiten gegangen war und deshalb auch leichtfertig über das schwere Los der Arbeitslosen lästern konnte, das sie sich doch selber zuzuschreiben hatten.

Betrübt vor sich hingrübelnd, wäre er um ein Haar am Warenhaus vorbeigelaufen. Gerade noch rechtzeitig fiel ihm ein, daß ihm Gerda heute morgen aufgetragen hatte, ein Päckchen Kaffee aus der Stadt mitzubringen, wenn er nicht vorhabe, ab morgen sein Frühstück trocken hinunterzuwürgen. Bei der Gelegenheit konnte er auch gleich seinen Bier- und Kräuterbittervorrat für den Keller nachfüllen, ging es ihm durch den Kopf. Er trat also ein und schlichtete die benötigten Artikel geschwind in seinen Einkaufswagen. Erst auf dem Weg zur Kasse durchfuhr ihn der Gedanke, daß das Geld in seinem Portemonnaie womöglicherweise für den Einkauf nicht ausreichen könnte. Er stoppte also vor dem Wurststand, um seine finanziellen Restbestände nachzuzählen. Nein, mit dem verbliebenen zerknüllten Fünf-Euro-Schein und dem wenigen Münzgeld würde er unmöglich auskommen. Er mußte also entweder auf den Kaffee oder einen großen Teil seiner Spirituosen verzichten, denn einen Dispokredit gewährte ihm die Sparkasse schon lange nicht mehr. Er warf das Päckchen Kaffee ins Blutwurstregal. Gepackt von einer jähen wilden Trotzreaktion legte er es aber einen Augenblick später wieder zurück in seinen Einkaufswagen, mit dem er nun eine steile Wende vollzog – dabei eine fettleibige alte Dame um ein Haar über den Haufen fahrend – um erst am Obst- und Gemüsestand wieder anzuhalten. Erfüllt von einer düsteren Wut über seine miserable finanzielle Lage, steckte er die Tüte Jacobskaffee, einen günstigen unbeobachteten Augenblick abwartend, in seine Aktentasche. Die sollten ihn mal! Er konnte auch ganz anders, wenn ihn diese mitleidlose Gesellschaft dazu zwang. Mit der verbitterten Entschlossenheit eines Verzweifelten eilte er zurück zur Kasse, wo auch alles ganz problemlos klappte. Die Kassiererin merkte anscheinend nichts von seiner Aufgeregtheit und Enrico wurde auf einmal übermütig, da er sich einen Ladendiebstahl nie im Leben so einfach vorgestellt hätte. Er bat noch um eine Stange Kaugummi und einen Einkaufsbeutel für die Getränke, ehe er in Richtung Ausgang weiter eilte. Doch eher er durch die Türe nach draußen entwischen konnte, wurde ihm von zwei verdächtig aussehenden kräftigen Burschen der Fluchtweg verstellt und er selbst recht unsanft an beiden Armen eingehenkelt und in den Laden zurückgezogen.
„Einen kleinen Moment noch, der Herr bitte, wir möchten nur noch einen kurzen Blick in seine Taschen werfen. Bitte folgen Sie uns doch bitte einmal nach dort drüben.“

Ganz so freundlich, wie ihre Bitte geklungen hatte, waren die beiden jungen Herren aber doch nicht, wie Enrico sehr bald feststellen mußte. Ziemlich unwirsch wurde er durch eine Tür in einen großen Nebenraum gestoßen, in dem riesige Paletten mit Waren nebeneinander aufgereiht und in die Höhe gestapelt standen. Während einer der Grobiane ihn an die Wand drückte, versuchte der andere, in den Besitz seiner Aktentasche zu gelangen. Doch Enrico wehrte sich standhaft und ließ sich weder Einkaufsbeutel noch Aktentasche entreißen. Da platzte den zwei Ladendetektiven die Geduld und Enrico spürte mit einem Mal, wie ihm der Boden unter den Füßen entglitt. Einen Augenblick später sauste sein Kopf gegen die Wand. Der brutale Schlag bereitete ihm zwar dumpfen Schmerz, führte aber gleichzeitig dazu, daß er seine beiden Utensilien nur noch verkrampfter mit beiden Händen umklammerte.
„Willst du uns nun endlich dein Diebesgut herausrücken, du Penner!“, hörte Enrico die beiden schreien.
Die Bezeichnung „Penner“ verlieh ihm neue Kräfte, obwohl ihm sein Kopf gewaltig dröhnte.
„Niemals!“, verkündete er lauthals in einem plötzlichen Anfall von Todesmut, dem eine halbe Sekunde später ein weiterer betäubender Kopfstoß, diesmal gegen eine Palette mit Kästen mit dem „einzig wahren Wachsteiner Pils“ beladen, folgte. Enrico verlor für einen Augenblick die Besinnung und sein so tapfer verteidigtes Hab und Gut entglitt seinen kraftlos gewordenen Händen. Die beiden Halunken ließen ihr Opfer sogleich zu Boden plumpsen und stürzten sich auf die Beute, während Enrico noch halb benommen auf dem Boden liegenblieb. Seine Widerstandskräfte waren erschöpft, und er ließ von nun an alle weiteren Schikanen lethargisch über sich ergehen. Die beiden Detektive hatten natürlich sofort den gestohlenen Kaffee entdeckt. Ohne ihn zu fragen, wühlten sie nun in seinen Hosen- und Jackentaschen, bis sie seine Geldbörse fanden, in der er auch seinen Ausweis aufbewahrte. Man notierte seine Ausweisnummer und verkündete dem physisch und psychisch Geschlagenen mit finsterer Miene:
„Das wird für Sie natürlich auch noch ein kleines gerichtliches Nachspiel haben. Ladendiebe werden bei uns nämlich ohne Pardon zur Anzeige gebracht. Sie können jetzt gehen, denn wir haben alle Beweise auch auf Videofilm gespeichert. Und lassen Sie sich hier so bald nicht mehr blicken, denn wir dulden nun mal solche Penner wie du einer bist in unserem anständigen Geschäft nicht!“
Enrico steckte sein Portemonnaie in die Hosentasche, nahm Tasche und Schnappsack wieder auf und verließ, von den beiden Detektiven eskortiert, mit schmerzendem Kopf den Laden. Anstatt zum Bus zu gehen und nach Hause zu fahren, lief er hinüber zum Park. Erst jetzt, an der frischen Luft, begann sein Kopf mit voller Wucht zu dröhnen. Nach einigem Suchen fand er eine einsame, hinter Sträuchern versteckt stehende Bank, auf der er sich vor den neugierigen Blicken der Passanten geschützt fühlte. Er setzte sich nieder und begann ungehemmt zu schluchzen, doch nicht so sehr wegen des physischen Schmerzes, den er erlitten hatte, sondern wegen der viel tiefer sitzenden Wunde, die soeben seiner Seele zugefügt worden war. Sehnsüchtig schaute er hinüber auf die sich dunkel wälzenden Fluten des Bleiche-Flusses. Seit dem Einsetzen der Schneeschmelze vor wenigen Tagen war der Wasserstand schon recht hoch gestiegen und am liebsten hätte er sich in das eiskalte Wasser gestürzt, um seinem erlittenes Trübsal zu entrinnen. Er begnügte sich dann aber doch mit dem Genuß von etwas Schnaps und mehreren Flaschen Bier, die man ihm gelassen hatte. Erst als es dunkel geworden war, machte er sich auf den Heimweg. Trotz des trüben Wetters zog er es vor, zu Fuß nach Hause zu gehen. Er nutzte eine Abkürzung quer durch den Wald, denn er wollte heute möglichst niemandem mehr begegnen.