Stefan 'Sterni' Mösch
Enrico der Verlierer
Eine Erzgebirgstragödie
16
Es dauerte einige Tage, bis sich Enrico in seinem neuen Heim halbwegs eingerichtet hatte. Es gab viel zu tun, so daß ihm für trübe Gedanken kaum Zeit blieb. Und selbst der Brief von Gerdas neuer Anwältin, Frau Henriette Schmied-Hubinger, in dem ihm der Entschluß seiner Gattin zur Scheidung mitgeteilt wurde, konnte ihn nicht mehr aus der Bahn werfen. Er hatte mit seinem früheren Leben endgültig abgeschlossen und konnte nun endlich wieder Pläne für die Zukunft schmieden, so glaubte er wenigstens. Und auch wegen der Kinder würde bald eine einvernehmliche Lösung gefunden werden, war er sich sicher. Sollten sie doch vorerst einmal bei Gerda bleiben, bis er sich wieder ein wenig aufgerappelt hatte, inzwischen konnte man sich ja jederzeit gegenseitig besuchen.
Wie erstaunt war er, als bald darauf eines Mittags das Telefon klingelte und eine junge, angenehm klingende Frauenstimme am anderen Strippenende fragte, ob er nicht zufällig Arbeit suche.
„Unsere Firma bietet Ihnen einen 30‑Stunden-Job.
Wenn Sie interessiert sind, kommen sie doch am nächsten Mittwoch 12 Uhr zum Informationsgespräch in unsere neu eröffnete Filiale in der Johannstraße 32, Vorderhaus, 5. Etage, vorbei.“
Er war so verblüfft von dem unverhofften Arbeitsangebot, daß er in seiner Aufregung ganz vergaß zu fragen, um was für einen Job es sich denn eigentlich handle, was es zu verdienen gäbe und wie man eigentlich so schnell zu seiner neuen Telefonnummer gekommen sei.
Sollte etwa schon das Jobcenter seine hilfreichen Arme ausgestreckt haben, um ihn ganz auf die Schnelle mit einem neuen Arbeitsplatz zu beglücken? Alles war möglich, hatte doch ein Spitzenpolitiker erst gestern im Fernsehen erklärt – gleich nach dem ersten Einschalten des alten, gerade billig erstandenen Fernsehgeräts für die einsamen Abendstunden – daß es ab jetzt wieder zielstrebig aufwärts ginge.
Ein neuer Expertenausschuß sei bereits ernannt worden.
Es könne sich also nur noch um wenige Monate bis zur entscheidenden Wende auf dem Arbeitsmarkt handeln.
Er war also durchaus hoffnungsvoll, als er an besagtem Mittwoch um punkt 12 Uhr den kleinen Seminarraum betrat und sich einen freien Platz in der hintersten der sechs aufgestellten Stuhlreihen suchte, auf denen sich bereits zwei Dutzend Arbeitsuchende niedergelassen hatten. Das Publikum bestand aus jungen und älteren Menschen beiderlei Geschlechts, die meisten von ihnen auffällig elegant gekleidet. Enrico musterte verstohlen seine ausgewaschenen Jeans und seine abgetragene Stoffjacke, die so gar nicht in das hier zur Schau gestellte Gepränge paßten. Hätte er geahnt, daß es so feierlich werden würde, dann hätte er sich auch ein wenig mehr in Schale geworfen, ging es ihm durch den Kopf. Nun ließ sich das aber leider nicht mehr ändern, er mußte die Sache auch so durchstehen.
Ein adrett gekleideter und ebenso sorgfältig geschniegelter Herr mit dichtem roten Haar stellte sich soeben als der Geschäftsführer der Firma vor, für die sie ja nun alle hoffentlich bald arbeiten würden.
„Mein Name ist Alexander Langbein und ich bin erfreut, daß Sie unserer Einladung, die wir in der Zeitung und per Telefon bekanntgemacht haben, so zahlreich gefolgt sind.
Leider zeigte sich das Arbeitsamt, an das wir uns ebenfalls gewandt hatten, nicht im mindesten an den Bemühungen unserer Firma interessiert, attraktive Jobs für ihre schwer gebeutelte Region zu schaffen.
Es ist jetzt fünf nach zwölf“, verkündete er dann, einen kurzen Blick auf seine goldene Armbanduhr werfend.
„Der Countdown läuft.
Deshalb möchte ich sofort mit meinem etwa einstündigen Vortrag beginnen, ohne noch auf etwaige Nachzügler zu warten.
Obwohl ich ein sehr umgänglicher Mensch bin, wie Sie sicher selbst bald feststellen werden, kann ich nämlich eines ganz und gar nicht ausstehen, und das ist Unpünktlichkeit!“
In diesem Moment öffnete sich unversehens noch einmal die Tür und ein vom schnellen Laufen durchschwitzter Mann stürzte in das Zimmer.
Sich mit einem weißen Taschentuch das Gesicht wischend, ließ er sich eilig auf den letzten freien Platz in der ersten Reihe fallen und keuchte außer Atem, Herrn Langbein zugewandt:
„Ich möchte mich vielmals für die Verspätung entschuldigen, aber …“
„Ist schon gut, Herr Pfeffke, Sie haben sich doch schon bei mir entschuldigt.
Ich bin gewiß kein Unmensch und entschuldige gerne eine kleine Verspätung, wenn es dafür gute Gründe gibt.
Sie waren übrigens der einzige, der sich bereits im voraus bei uns persönlich Auskünfte eingeholt hat, dafür gebührt Ihnen ein besonderes Lob.“
Enrico wollte seinen Augen nicht trauen, der verschwitzte Herr da vorne im schwarzen Anzug und Schlips, das war kein anderer als sein Schwager Willy.
Zum Glück hatte ihn dieser beim Hereineilen nicht bemerkt, so konnte er vorerst noch inkognito auf Beobachterposition verbleiben.
„Meine Damen und Herren, nun aber endlich zum Thema.
Ich freue mich riesig, Sie in den Räumen der VeniVidiVici GmbH., kurz und schmerzlos auch VVV, genannt, selbstverständlich englisch prononciert, begrüßen zu dürfen.“
Dabei spreizte er seine Finger spitzbübig schmunzelnd dreimal hintereinander zu einem Victory-Zeichen, dem firmeninternen Erkennungscode, wie sich bald herausstellen sollte.
„Es freut mich ebenfalls, daß sich heute Menschen aller Altersklassen hier versammelt haben – wir haben sogar eine Dame unter uns, die noch dieses Jahr in Rente gehen wird, stellen Sie sich das vor! – und alle sind ernsthaft daran interessiert, wieder ins Arbeitsleben einzusteigen.
Ich möchte Ihnen allen bereits vorab ganz herzlich zu Ihrem tapferen Entschluß gratulieren.
Sie haben die richtige Entscheidung getroffen! Denn unsere Firma bietet für jeden interessierten und halbwegs begabten Menschen, egal welchen Alters, einen festen Job, der außerdem noch außergewöhnlich gut bezahlt wird.
Befinden sich denn unter Ihnen Damen oder Herren, die über fünfzig Jahre alt sind?“
Mehrere Finger reckten sich zaghaft in die Höhe.
„Da können Sie ja sicher ein Lied darüber singen, wie man Sie bei Vorstellungsgesprächen immer wieder mit dem Vorwand abgelehnt hat, Sie seien einfach zu alt für den angebotenen Job.“
Betretenes Nicken der Betroffenen.
Ein wenige Jahre jüngerer Jobinteressent mischte sich aufgebracht in die Debatte:
„Das kriegt man heute öfters auch schon mit vierzig Jahren zu hören, daß man zu alt sei.
Gleichzeitig wird dann aber von einem noch eine fünfundzwanzigjährige Berufserfahrung verlangt.“
Langbein nickte anscheinend tief betroffen und verkündete dann freudestrahlend:
„Sie werden erstaunt sein, aber das Alter spielt bei uns nicht die mindeste Rolle.
Unsere Firma weigert sich strikt, den in dieser Gesellschaft zelebrierten Jugendwahn mitzumachen.
Für diese Einstellung bin ich betriebsintern regelrecht berüchtigt.
Letztens kam eine junge Dame zu mir und entschuldigte sich, daß sie weder unter 20 noch über 60 sei und deshalb große Angst habe, mich um eine kleine Gefälligkeit zu bitten.“
Herr Langbein machte eine kurze Pause, um dem versammelten Publikum die Möglichkeit zu geben, seinen Humor zu goutieren.
Aus den beiden ersten Reihen ließ sich auch ein leichtes Kichern vernehmen.
„Ja, nun möchten Sie wohl gerne wissen, welche Gefälligkeit ich der Dame erweisen sollte, doch in solchen Dingen bin ich absolut diskret, das bringt mein Beruf nun einmal mit sich.
Aber vielleicht könnten Sie mir stattdessen eine andere Frage beantworten.
Wofür könnten denn die drei großen ‚V‘ unserer Firma, die sie sicherlich alle schon an der Eingangstür bemerkt haben, stehen?“
Er beamte sogleich das Firmenlogo auf eine an der Wand fixierte Leinwand und machte eine kurze Pause, in der berechtigten Hoffnung, daß keiner der Anwesenden Latein verstünde.
„Ja, das habe ich fast befürchtet, leider befinden sich keine Lateiner unter Ihnen“, heuchelte er schwermütig.
„Aber von Cäsar haben Sie sicherlich alle schon einmal gehört, dem Römerchef bei Asterix.
Die Namenswahl war natürlich eine Idee von mir, sie ist sozusagen mein Motto und hat mit der schwunghaften Expansion unserer Firma in die neuen Bundesländer zu tun.“
Herr Langbein ging nun daran, Cäsar und seinen erfolgreichen Kampf gegen die Gallier zu schildern.
Es herrschte betretenes Schweigen ob seiner zur Schau gestellten gründlichen westdeutschen Gymnasialbildung, mit der kein einziger ostdeutscher Allgemeiner Polytechniker mithalten konnte.
„Cäsar kam, und sah, und siegte.
Auch wir sind hierher gekommen, um nach dem Rechten zu sehen und siegreich unsere Produkte zu vertreiben, was letztendlich allen Menschen Ihrer Region zum Wohle gereichen wird.“
Er beamte nun weitere Unternehmenslogos an die Wand, in der Mehrzahl von bekannten Bank- und Versicherungsgesellschaften, mit denen seine Firma erfolgreich kooperierte.
„Für unseren siegreichen Feldzug sind wir natürlich auf tatkräftige Unterstützung durch die Bevölkerung angewiesen.
Deshalb haben wir beschlossen, allein in Ihrem Bezirk mindestens 150 Mitarbeiter zu integrieren.
Wir expandieren nämlich gewaltig.“
Um dieses Expandieren zu verdeutlichen, beamte Langbein nun eine Karte der Bundesrepublik an die Wand, auf der, wie bei einem Scharlachkranken, eine Menge roter Punkte zu erkennen war, zunächst auf der linken Hälfte die Niederlassungen in den alten Bundesländern aufzeigend, und dann, nach erneuter kurzer Betätigung des Vorführgeräts, auf der rechten Kartenhälfte auch die im Entstehen begriffenen Standorte im „Nahen Osten“, wie er schalkhaft aber treffend zu formulieren verstand.
Dazu schnarrte er eine lange Liste von Städtenamen herunter, jedesmal ergänzt durch die Anzahl der dort tätigen bzw. eingeplanten Firmenmitarbeiter.
„Wie sie selber sehen können, hähä, unsere GmbH wird immer größer,“ verkündete er triumphierend.
„Und Sie sind die Auserwählten, um uns auf unserem Siegeszug zu begleiten.
Doch keine Bange, während eines kurzen Einführungskurses werden wir Sie ohne allzu großen Streß in alle Kniffe, die für die Ausübung Ihres neuen Jobs notwendig sind, einweihen.
Unser Hauptbetätigungsfeld liegt in der Versicherungsbranche.
Da ist höchste Professionalität gefragt, wie vielleicht diejenigen unter Ihnen bestätigen können, die bereits Erfahrungen auf diesem Gebiet gesammelt haben.
Wer von Ihnen hat denn schon einmal in einem CallCenter gearbeitet?“, fragt er auf einmal unverhofft.
Drei Vorbelastete hoben ihre Finger.
Unter ihnen befand sich zu Enricos Erstaunen auch sein Schwager Willy, der seiner Kenntnis nach doch bisher nur Freiwillige für die Feuerwehr und seinen Kegelklub geworben hatte.
„Das finde ich ja wirklich toll, daß sich heute auch ein paar alte Hasen hier eingefunden haben.
Das wird die Sache um einiges leichter machen.
Und auch die anderen werden gewiß ganz schnell das Nötige lernen, wenn sie nur bereit sind, genügend Kreativität und Fleiß für ihre neue Arbeit aufzubringen.
Und dann können Sie sich bei uns getrost Ihr Geld bis zur Rente verdienen, denn an Kurzzeitjobs sind wir nicht im mindesten interessiert.
Was wir brauchen, das sind erfahrene Kollegen, die voll und ganz zu unserer Firma stehen.
Wir hätten doch wirklich nichts davon, wenn wir andauernd neue Leute einstellen und anlernen müßten.“
In diesem Moment klingelte im Publikum ein Handy, ohne daß der Besitzer irgendwelche Anstalten machte, sein Gerät wieder auszuschalten.
Das brachte Langbein ziemlich arg aus dem Konzept.
Deshalb erklärte er ungewöhnlich giftig, seinen optimistischen Gedankenstrang für einen Moment unterbrechend:
„Die Benutzung von Handys ist in unserer Firma strengstens untersagt.
Diese sollten deshalb nur draußen während der Pausen benutzt werden, sonst kann ich richtig ungemütlich werden.
Ansonsten kann bei uns ein jeder soviel telefonieren wie er will.
Wegen der Kosten machen sie sich da mal keine Sorgen, da haben wir Sonderkonditionen.“
Und schon wieder wurde Herr Langbein von einem Optimismus überwältigt, der zumindest einige Zuhörer in den beiden vorderen Reihen ansteckte.
Er kam nun auf die Schwierigkeiten und Kniffe des Telefonierens in einem CallCenter zu sprechen, denn der potentielle Versicherungskunde wolle nun mal kompetent und anständig beraten sein.
Mit einem Schmunzeln wandte er sich dann seinem Lieblingsthema zu: der Immobilienberatung.
Der hierfür zuständigen Firmenabteilung stand er selber vor, und so fiel es ihm leicht, seinen aufmerksam lauschenden Zuhörern zahlreiche interessante Details über seine Arbeit zum Besten zu geben.
„Eine gute Beratung über die Finanzierung von Bauvorhaben ist dringend geboten.
Wir übernehmen in diesem Falle alles, bis hin zur Organisation und der Bezahlung des Richtfestes, denn dazu fehlen den gestressten Häuslebauern gewöhnlich die Nerven.
Leider gibt es ja immer mehr schwarze Schafe in der Branche, die ziemlichen Pfusch anbieten.
Davon haben sie ja sicher schon gehört?“
Ein zustimmendes Nicken bei den erfahrenen Hasen bestätigte seine Besorgnis.
„Doch mit denen haben wir nichts zu schaffen, die vermasseln uns nur das Geschäft.
Wir dagegen sind auf diesem Gebiet einfach genial! Stellen sie sich nur vor, 130 Häuser schaffen wir pro Jahr! Das macht wirklich Spaß.
lassen sie sich das von einem Spezialisten auf diesem Gebiet wie mir gesagt sein, der schon seit 1970 bei der OVB, der Objektiven Vermögensberatung, arbeitet.“
Nun wurde der Beamer wieder in Gang gesetzt und die Firmenlogos der über 200 Kooperationspartner der VVV GmbH auf diesem Sektor eingeblendet.
Sie purzelten auf das Kartenbild Deutschlands, es in Blitzeseile überwuchernd.
Plötzlich schrumpfte jedoch Deutschland zu einem kleinen Klecks zusammen, um den globalen Strategien der Firma genügend Raum zu gewähren.
Mehrere Dutzend aus dem Nichts entstehende neue Scharlachflecke hüpften nun auf hervorschnellenden Pfeillinien, die Krakententakeln glichen, in alle vier Himmelsrichtungen davon, um sich in allen bewohnten Weltgegenden wie Miasmen einer geheimnisvollen Krankheit einzunisten: nach Spitzbergen im äußersten Norden, wo wohl der Bau von Iglus gefördert wurde, nach Westen über den Atlantik und über die Bucht von Manhattan hinweg, den Mississippi überspringend und die Route 66 entlangrasend bis in den Wilden Westen, wo augenscheinlich geplant war, die Tipis der Prärieindianer durch Wärme dämmende Reihen-Einfamilienhäuser zu ersetzen, nach Süden über das Mittelmeer und die Wüste Sahara in Richtung auf die Quellen des Nils zu, in der unverkennbaren Absicht, der Firma am Victoriasee ein viertes „V“ zu verschaffen, über die weiten Steppen Mittelasiens und die Große Mauer hinweg hinein ins Reich der Mitte, um auch die chinesischen Reisbauern mit deutscher Wertarbeit zu beglücken, ja selbst, von dort aus scharf nach rechts unten abbiegend und frohgemut dem australischen Kontinent entgegen eilend, um auch den Aboriginees die frohe Kunde des nahendes Heils zu verkünden.
Enrico war von der sich da vor ihm plötzlich entfaltenden Blitzkriegsstrategie fasziniert und auch die anderen wurden geostrategisch so stark überwältigt, daß sie ihr Entzücken durch kurze emphatische Seufzer Ausdruck verleihen mußten.
Doch auch damit gab sich Zauberkünstler Langbein noch lange nicht zufrieden.
Flugs setzte er dem visuellen Spektakel noch einen krönenden verbalen Kommentar oben auf, ganz bewußt die Worte stakkatohaft in die Runde abfeuernd, ähnlich einem siegreichen Feldmarschall, der seinem geliebten Führer Heeresbericht erstattet:
„Insgesamt 18.000 Menschen haben wir bis jetzt als Mitarbeiter für unsere Mission gewonnen.
Und es werden täglich mehr!“
Und plötzlich – wieder ganz sanft werdend und auf den Boden der Realität zurücksinkend:
„Da werden Sie sicherlich nicht erstaunt sein, wenn ich Ihnen verrate, daß wir recht bald an die Börse gehen werden.
Sie sind herzlich dazu eingeladen, uns auf diesem schicksalsträchtigen Gang zu begleiten.“
Den Beamer wieder ausknipsend, wendete er sich nun wieder den Öden des Alltagsgeschäfts zu, sich voller Grimm auf unseriöse Konkurrenzunternehmen wie die Alliance-Versicherung, mit der er wohl auch persönlich noch ein Hühnchen zu rupfen hatte, einschießend.
„Leider wurde durch derart unseriös agierende Firmen in den 90er Jahren der gute Ruf unserer Branche in den Ostländern verspielt.
Seit der Einführung der neuen strengen EU-Richtlinien ist das freilich anders geworden.
Durch die Stärkung der Kundenrechte stiegen bei einigen dieser dubiosen Firmen die Storno-Raten bis auf 70 %.
Na, die müßten bei mir mal antanzen! Denen geht es ja nur darum, kurzfristig en masse Verträge abzuschließen.
Doch irgendwann ist dann Schluß mit dem Schlamassel … Bei uns sind solche Machenschaften natürlich mega-verboten.
So ist es zum Beispiel strikt untersagt, einem Kunden einen faulen Vertrag aufs Auge zu drücken.
Man kennt das ja mit den neunzigjährigen Omas, die Kaskoversicherungen aufgeschwatzt bekommen hihihi!“
Pontius-Pilatus-gleich streckte er nun seine Hände nach vorne, wohl in der Hoffnung, auf diese Weise göttliche Absolution für die Missetaten seiner schwarzen Branchenbrüder erlangen zu können.
Und wie ein heiliger Schwur entfuhr es ihm dann, auf einmal im lieblichsten Engelstone intonierend und dabei wie wild mit seinen sauberen Händen in der Luft gestikulierend, als wolle er einen unsichtbaren Chor dirigieren:
„Wenn der Wind von Westen weht | VVV zur Stelle steht. | |
Frohgemut trotz stärkstem Frost | eilen wir zum Aufbau Ost. | |
Unsern Brüdern beizustehen, | die um unsre Hilfe flehen. | |
Reichen selbstlos Euch die Hand: | Deutschland, einigs Vaterland. | |
Wenn's Geld dann im Kasten klingt, | zünftig man ein Liedlein singt. | |
Schallt wohl über güldne Auen, | übers Elbtal durch die Gauen. | |
Bunte Landschaften erblühen. | Spreewaldgurken, Alpenglühen. | |
Freies Deutschland, grüß dich Gott, | von der Spree bis zum Ruhrpott."" |
Mit einem langgestreckten Ton in den höchsten Lagen beendete er seinen Lobeshymnus, machte dann einen artigen Knicks und bemerkte dann nicht ohne Stolz mit vorgereckter Brust:
„Dies war ein kurzer Auszug aus dem neuen Firmenhit, der alles in allem sieben Strophen umfaßt, alle sämtlich persönlich von mir getextet und intoniert. Bei der Betriebsleitung konnte ich mittlerweile durchsetzen, daß jeweils zwei Verse davon zu Schichtbeginn von unseren Angestellten im Chor gesungen werden, um das Arbeitsklima zu optimieren. Mehr konnte ich leider vorerst nicht durchsetzen, da das Direktorium zu hohe Arbeitsausfälle befürchtet.“
In diesem Moment stand die eingangs gepriesene alte Frau auf, um kopfschüttelnd den Seminarraum zu verlassen. Auch Langbein schüttelte ungläubig den Kopf, seine Verwunderung über eine solch unvernünftige Handlungsweise andeutend. Nervös auf seine Uhr schauernd, schickte er der Alten einen zynischen Abschiedsgruß nach, ehe er sich wieder seinem Publikum zuwandte:
„Manche Leute wollen sich eben partout nicht helfen lassen. Das trifft für Sie gewiss nicht zu, und Sie werden Ihren Entschluß auch nicht bereuen, das möchte ich Ihnen am Schluß meines Vortrages noch einmal beteuern. Wie gewöhnlich pünktlich auf die Minute habe ich nämlich meinen Einführungsvortrag beendet. Sie werden nun noch zehn Minuten Zeit haben, mir Fragen über Ihren zukünftigen Job zu stellen. Und vergessen Sie bitte hinterher ja nicht, sich in die Liste, die im Vorraum bei meiner Sekretärin ausgelegt ist, einzutragen. Eine Kopie des Firmenliedes bekommen Sie dort auch.“
Schwager Willy, einer der eifrigsten Zuhörer in der Runde, wollte nun wissen, wann er denn mit dem schon so lange ersehnten Job anfangen könne.
„Von mir aus können Sie schon am Montag beginnen. Das dürfte aber den Arbeitsamtskunden unter Ihnen ziemlich schwerfallen, da diese noch eine Genehmigung der Behörde benötigen. Sollte es nicht bis zum Montag klappen, denn die Ämter sind ja für ihre langen Bearbeitungszeiten berüchtigt, dann fangen Sie eben eine Woche später an. Und denken Sie an die Fahrkostenerstattung, auf die Sie eventuell Anspruch haben.“
„Leider kenne ich mich mit diesen Arbeitsamtsproblemen kein bißchen aus“, fügte er dann noch bedauernd hinzu, „da ich noch nie arbeitslos gewesen bin. Deshalb ist es für mich auch nur sehr schwer nachvollziehbar, was dort so alles passiert.“
Eine junge Dame fragte nun, wie denn der Ablaufplan für die „Unerfahrenen“, zu denen sie selber zählte, aussehe.
„Begonnen wird mit einer Einführungswoche, deswegen verlangen wir auch keine schriftliche Bewerbung von Ihnen, worüber sich gewiß ein jeder freuen wird. Den Höhepunkt der Einstiegswoche bildet dann ein Assessmenttest. Für Bewerber vom Arbeitsamt dauert der Kurs jedoch eine Woche länger, das wollen die dort so. Meiner Meinung nach würden auch schon drei Tage genügen, um sie in die wichtigsten Kniffe ihrer neuen Arbeit einzuweihen, aber das wäre für Sie dann wohl doch zu viel Stress gleich für den Anfang. An den ersten beiden Tagen werden wir Ihre Eignung für die Telefonarbeit testen. Mittwoch früh gibt es dann eine Schulung für alle, die wird volle sechs Stunden dauern. Dabei wird es um so wichtige Fragen wie das Produkte-KnowHow gehen. Das letzte Mal gab es übrigens als praktische Übung eine Telefonumfrage. Einige von Ihnen erhielten ja Ihre Einleitung per Telefon. Das waren ihre Vorgänger, darf ich Ihnen an dieser Stelle verraten. Bei den restlichen Tagen handelt es sich um die echten Testtage. Aber machen Sie sich mal deswegen keine Sorgen. Wie Sie die Software zu bedienen haben, das kriegen Sie, wie auch alles übrige, schon zur rechten Zeit von uns gezeigt.“
Herr Langbein fühlte sich wieder einmal voll in seinem Element, verlor sich dabei erneut in einem Gewirr von Details, so daß er diesmal ausnahmsweise sein Zeitlimit überziehen mußte.
Ein CallCenter-Job-Wütiger, der extra 85 Kilometer aus dem Nachbarbundesland Thüringen angereist war, nutzte eine Atempause des Monologisierenden, um die brenzlige Frage zu wagen, mit wieviel Geld pro Monat er denn eigentlich rechnen könne.
„Sie wissen ja, die Spritpreise haben in letzter Zeit tüchtig angezogen“, fügte er rasch noch entschuldigend hinzu.
Es schien jedoch, als habe Langbein diese Frage schon lange erwartet. Weit ausholend entwarf er deshalb sofort mit kräftigen Farben eine in finanziellen Dingen sorgenfreie Zukunft für alle erfolgreichen zukünftigen Mitarbeiter.
„Sie wollen ja alle Geld verdienen, nicht wahr? Da brauchen wir uns nichts vorzumachen. Also, vierzig Stunden Wochenarbeitszeit, das fanden wir einfach zu brutal, bei ca. 300 Gesprächen am Tag, die sie zu führen haben, darunter sicherlich auch eine ganze Reihe schwierige. Ich könnte Ihnen da Dinge erzählen …, aber lassen wir das im Moment lieber. Da wir verhüten wollen, daß sie sich in kurzer Zeit kaputt arbeiten, haben wir die Wochenarbeitszeit auf dreißig Stunden beschränkt, und Überstunden sind bei uns strikt verboten, genauso wie Wochend- und Feiertagsarbeit, alles Ihrer Gesundheit zuliebe. Dafür bekommen sie von uns einen fixen Festbetrag von 600 Euro pro Monat geboten. Ist das nicht toll?“ Diese Riesensumme schrieb er an die Tafel und zeichnete sogleich noch ein „+“ dahinter: „Das steht für die Provision. Aber dazu noch später. Also, sie bekommen von uns einen einwandfreien Nettomonatsvertrag mit Ausnahme der Selbständigen, die extra verrechnet werden. Sie verstehen schon, die sogenannten Ich-AGler. Erwartet wird, daß sie drei Abschlüsse pro Tag machen. Das kriegt man hin, das können Sie mir glauben. Der Durchschnitt liegt bei etwa 5,46 pro Tag, aber dafür werden Sie eine Weile brauchen, außer vielleicht die paar alten Hasen unter ihnen. 15 Euro bekommen Sie pro erfolgreichen Abschluß extra, das macht …“.
Mit Unterstützung des im Kopfrechnen ziemlich begabten Willy in der ersten Reihe kam Langbein schließlich auf einen durchschnittlichen Verdienst von 1.500 Euro pro Monat, eine wahrhaft faire Bezahlung, darüber waren sich alle einig. Die Zahl schrieb er nun ebenfalls – diesmal noch fetter gedruckt – an die Tafel.
„Wer länger bei uns bleiben wird, kann es in drei bis vier Monaten ganz leicht auf 2.000 Euro schaffen, das ist doch prächtig. Ich kenne da einen Mitarbeiter aus Münster, der acht bis neun Verträge täglich schafft, der kommt sogar auf 3.000 Euro.“
Ein ungläubiges Raunen ging durch die Reihen angesichts dieser astronomischen Summe, so daß kein einziger bemerkte, wie Langbein sein Programm immer weiter überzog. Der war inzwischen wieder beim Thema Pünktlichkeit angelangt.
„Auf Unpünktlichkeit reagiere ich wie ein Schießhund, da kenne ich kein Pardon. Wir fangen hier um punkt 8 Uhr 30 an, Raucher sollten der Fairness halber lieber fünf Minuten eher kommen. Und dann noch ein Hinweis zum Schluß: Nicht alle Menschen, mit denen Sie sprechen werden, werden nett sein. Es gibt da freilich immer wieder ein paar Berserker, Leute, die täglich schlechte Laune haben. Sinnen Sie dann keinesfalls auf Rache, indem sie womöglich mit dem nächsten Kunden Zoff anfangen, der kann nämlich auch nichts dafür. Übrigens kann bei uns jederzeit zur Toilette gegangen werden. Es gibt da nämlich Firmen, bei denen das vom Lohn abgezogen wird. Das ist natürlich rechtswidrig. Wir setzen dagegen auf ein gutes Arbeitsklima, da wir ja möchten, daß Sie sich bei uns wohl fühlen. Und was ich Ihnen zumute, das nehme ich selbstverständlich auch persönlich gerne in Kauf. Auch ich führe immer noch aus purem Spaß an der Sache meine Kundengespräche, so 20 bis 30 die Woche, obwohl ich das eigentlich schon lange nicht mehr nötig hätte.“
Nun endlich war Herr Langbein am Schluß seiner weitläufigen Erläuterungen angelangt, da verspürte Enrico zum ersten Mal das Bedürfnis, selber eine Frage in die Runde zu werfen:
„Bekomme ich denn schon während meiner Testtage eine Provision?“
Wie elektrisiert warf Willy einen Blick auf seinen unglückseligen Schwager nach hinten, den er bis zu diesem Zeitpunkt noch gar nicht wahrgenommen hatte. Wie durfte der es wagen, am Ende noch so eine überflüssige Frage zu stellen. Das würde ihm sicherlich noch teuer zu stehen kommen. Doch Herr Langbein zeigte sich großmütig und erwiderte nur müde lächelnd:
„Das ist eine schwierige Frage. Man könnte natürlich darüber reden, aber ich glaube nicht, daß Sie so schnell Erfolg haben werden. Übrigens bekäme ich dann auch rechtliche Probleme, denn das wäre Schwarzarbeit und Steuerhinterziehung.“
Während sich Langbein nochmals als Quizmaster betätigte und sich bei den noch Anwesenden erkundigte, ob sie denn wohl wüßten, welche drei Versicherungen denn ein jeder vernünftige Mensch in seinem Leben brauche, stand Enrico auf, um sich im Vorraum in die Jobliste einzutragen. So sollte er nicht mehr erfahren, über welches dritte Sicherungsrad neben Haftpflicht- und Unfallversicherung jeder „vernunftbegabte Mensch“ in unserer Gesellschaft unbedingt verfügen müsse, um gegen die überall lauernden Alltagsgefahren gefeit zu sein.