Stefan 'Sterni' Mösch

Enrico der Verlierer

Eine Erzgebirgstragödie

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20

Doch Enrico sollte auch zu Hause keine Ruhe finden, zu tief steckte der erlittene Stress noch in seinen Gehirnwindungen. Bis spät in die Nacht saß er noch vor seinem Fernsehapparat, um sich danach im Bett andauernd von einer Seite auf die andere zu wälzen, total erschöpft, zugleich aber hellwach. Die Stille im Zimmer und draußen in der Finsternis wurde nur ab und zu durch das gespenstisches Wetterleuchten eines weit entfernt wütenden Unwetters unterbrochen. Bei jedem Blitz warfen sich die Schatten der vor dem Haus stehenden Bäume in Enricos Zimmer, einer Schar Furien gleich, auf der gierigen Suche nach der Seele eines verzagten Lebenden, um diesen zu packen und mit sich in ihr düsteres Reich zu schleppen. Von plötzlichem Grauen gepackt, verbarg sich Enrico eine Zeit lang unter seiner Bettdecke, doch trieb ihn die große Schwüle schon bald wieder aus seinem Versteck hervor. Erst gegen früh fiel er in unruhigen Schlaf, aus dem er aber schon nach kurzer Zeit wieder wie erschlagen erwachte. Auch den ganzen Samstag über gelang es ihm nicht, sich wenigstens ein Weilchen zu entspannen. Seine innere Unruhe trieb ihn in seiner kleinen Wohnung unablässig hin und her. Schließlich ging er daran, sein Wohnzimmer zum dritten Mal innerhalb von zwei Wochen umzuräumen.

Nach seiner zweiten durchwachten Nacht beschloß er am Sonntagmorgen, aus seinem Gefängnis nach draußen in die Natur zu entfliehen. Ohne zu frühstücken machte er sich auf den Weg, um auf einsamen Pfaden über Waldeshöhen zu wandern. Doch auch das schattige Unterholz verschaffte ihm nicht die erhoffte erfrischende Kühle. Im Gegenteil, die große Hitze lockte Myriaden von Mücken und Bremsen aus dem Dickicht, die ihn erbarmlos zu piesacken begannen. Er beschleunigte seinen Schritt, um ihren gierigen Rüsseln zu entgehen, doch war er auf diese Weise bereits nach kurzer Zeit in Schweiß gebadet. Am frühen Nachmittag traf er beim städtischen Krankenhaus ein, wo er seine Großmutter besuchen wollte. Doch die Alte lag noch immer reglos in ihrem Bett, vollgepumpt mit irgenwelchen Beruhigungsmitteln. Er konnte diesen trostlosen Anblick nicht ertragen und machte sich deshalb schon nach einer Viertelstunde wieder auf den Heimweg. Nach einer Stunde Fußmarsch begann es auf einmal mächtig finster zu werden. Es dauerte nicht lange, bis sich eine wahre Sintflut über den einsamen Wanderer ergoß, als hätte man alle himmlischen Schleusen mit einem heftigen Ruck geöffnet, um all den angestauten Dreck und Staub ringsumher mit einem einzigen Schub von dannen zu spülen. Umsonst versuchte er, sich unter einer mächtigen hohen Buche vor dem tobenden Unwetter in Sicherheit zu bringen. Gepeitscht vom strömenden Regen und getrieben von zuckenden Blitzen eilte er seiner weit draußen am Rande der Stadt gelegenen Wohnung entgegen, wo er nach langem Sprint endlich wie ein begossener Pudel ankam.

An diesem Abend fiel er ungewöhnlich schnell in einen schweren Schlaf, aus dem er immer wieder durch verworrene Alpträume aufgescheucht wurde, in denen alle seine Verwandten und Bekannten, mutiert zu blutrünstigen Zombies, herumgeisterten, um sich seiner armen Seele zu bemächtigen. Zunächst erschien Gerda mit einem Nudelholz, um ihren Gatten aus dem Ehebett zu jagen, in dem er es sich gerade gemütlich machen wollte. Im Vorsaal vertrat ihm Rolf den Weg, packte ihn beim Arm, flüsterte boshaft:
„Na, alter Freund“, machte die Korridortür auf und schmiß ihn dann die Treppen im Flur hinunter. Hohnlachend rief er ihm noch hinterher: „Um deine Frau werde ich mich natürlich kümmern!“

Auf der Straße angelangt, versperrte ihm auf einmal eine Horde Skinheads den Weg, die von seinem Schwager Herbert angeführt wurde. Dieser deutete mit knöchernen, spitzen Zeigefinger auf Enrico, worauf sich die ganze Meute, bewaffnet mit Knüppeln und Baseballschlägern, auf ihr Opfer stürzte. Der Chef der Bande grinste ihn höhnisch an und holte dann zu einem mächtigen Schlag mit einer leeren Schnapsflasche aus, die auf seinem Kopf zersplitterte. Dazu bellte er wie eine tollwütig gewordene deutsche Dogge:
„Haste nun endlich genug, du Penner!“
Doch Enrico verteidigte verzweifelt und unter Einsatz aller seiner Kräfte das Päckchen Bohnenkaffee der Marke „Jacobs die Krönung“, das er doch so dringend brauchte, um es Oma Lieselotte als Geburtstagsgeschenk zu überreichen. Das Blut lief in Strömen über seinen verwundeten Schädel, um ihn schließlich ganz die Augen zu verkleben. Als er aus seiner Besinnungslosigkeit erwachte, lag er in der Straßengosse. Ein Stoßtrupp der Dorffeuerwehr kam dahergerannt, an der Spitze sein Schwager Willy, bewaffnet mit einer riesengroßen Wasserspritze.
„A-a-a-a-aus dem Weg! Vermaledeiter Brandstifter!“, stotterte er erregt mit seiner penetranten Fistelstimme und richtete den Strahl auf den hilflos vor ihm im im Straßendreck Liegenden. Gerdas Freundin Heidi kam mit einem großen Biobeutel bewaffnet herbei geeilt, um den „miserablen Umweltverschmutzer und Fleischfresser“ mit dessen Inhalt – Zucchini, Auberginen, Broccoli und Blumenkohl aus dem Bioanbau – zu beschießen.
„Werft den Nestbeschmutzer in den Feuerwehrteich, der soll sich in unserem Dorf nie wieder blicken lassen!“, ertönte da im ruhigen aber gestrengen Ton die Baritonstimme von Bürgermeister Wolfgang Kunze, puterrot im Gesicht, der mit Pfarrer Gottfried Seelig soeben am Tatort erschienen war. Letzterer winkte den im Hintergrund wartenden Posaunenchor herbei, der Enrico nun tüchtig den Marsch blies. Auch seine Eltern tauchten jetzt auf einmal auf. Vater Erhard schüttelte mißbilligend den Kopf über seinen mißratenen Sohn, flüsterte entgeistert: „Dieser Versager!“ – und zerrte dann seine Frau Erna am Ärmel fort, um ihr weitere Schande zu ersparen. Das empörte Dorfvolk, das jetzt aus allen Gassen herbeiströmte, packte Enrico am Schlaffittchen und schmiß ihn kurzerhand in den Feuerwehrteich, der sich aber im Nu in ein riesiges Morastloch verwandelte, in dem der Gejagte immer weiter versank. Je verzweifelter er versuchte, sich aus dem Schlamm zu befreien, um so tiefer sackte er in die Tiefe hinab. Auf seine Hilferufe erschien plötzlich eine elegante Gestalt am Rande des Pfuhls, gekleidet in einen modischen Nadelstreifenanzug. Enrico wollte seinen entsetzten Augen nicht trauen. Es war sein Arbeitsvermittler Herr Schleicher, der ihm spitzbübig grinsend seinen Spazierstock zur Rettung hinhielt. Doch ehe Enrico diesen erhaschen konnte, wurde er schon wieder zurückgezogen.
„Tut mir wirklich leid, aber ihr Termin war doch bereits am letzten Montag. Au revoir.“ – und verschwunden war der Bösewicht.

Enrico, dem der Schlamm mittlerweile schon bis an die Brust reichte, hörte jetzt auf einmal ein boshaftes Gelächter, das sich von der Seite her langsam näherte. Es war CallCenter-Chef Alexander Langbein höchstpersönlich, der gekommen war, um seinem „Lieblingsschüler“ schmunzelnd ein Stück Kreide über den Teichrand zuzuwerfen.
„Also Herr Walther, wieviel macht denn nun zwölf mal tausend Euro?“
„Zu Hilfe, zu Hilfe“, keuchte Enrico verzweifelt zurück, dem der Schlamassel bereits bis zum Halse stand.
Da hob Langbein vorwurfsvoll seinen rechten Zeigefinger und fragte ihn oberlehrerhaft: „Welche drei Versicherungen braucht also ein jeder vernünftige Mensch in seinem Leben, das ist hier die Überlebensfrage!“
Kopfschüttelnd und mit irrer Stimme sein Firmenlied jauchzend, verließ er sodann den Kampfplatz, der binnen kürzester Frist Enricos feuchtes Grab werden mußte, wenn sich nicht doch noch im letzten Augenblick eine wundersame Rettung anbahnen würde.

Da auf einmal erblickte er Oma Lieselotte am Ufer. Dick eingepackt saß sie in einem Rollstuhl, unfähig sich von der Stelle zu rühren. „Mein armer Junge“, röchelte sie mit schwacher Stimme, „was hast du nur mit meinen 200 Euro gemacht?“
In diesem Augenblick schluckte Enrico das erste Mal die braune Brühe, die ihn gleich darauf unter sich verschlang. Mit verzweifelter Kraft bäumte er sich noch ein letztes Mal auf. Von Oma Lieselotte war auf einmal nichts mehr zu sehen, nur das magersüchtige Mädchen stand jetzt weinend am Ufer, beugte sich zu ihm nieder und versuchte verzweifelt, Enrico ihr schwaches Händchen zu reichen. Doch zu einer Rettung war es bereits zu spät. Alles wurde ganz plötzlich dunkel um ihn herum, doch dann – ein schrilles Kreischen …

Ganz weiß vor Schrecken im Gesicht sprang Enrico von seiner Lagerstatt auf. Sein alter Wecker hatte ihn unsanft aus seinem Alp gerüttelt. Ein neuer anstrengender Lern- und Arbeitstag hatte für unseren Helden soeben begonnen.