Stefan 'Sterni' Mösch
Enrico der Verlierer
Eine Erzgebirgstragödie
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Die trügerische Hoffnung einiger VVV-Neueinsteiger, das Sammeln erster praktischer CallCenter-Erfahrungen würde zu einer Stressminderung führen, wurde gleich am Montagmorgen durch Langbeins militanten Lehrstil in alle Winde zerstoben, so daß nun plötzlich so manch einer unter ihnen gewünscht hätte, wieder in dem überhitzten Seminarzimmer von mathematischen Formeln umraunt dem Feierabend zuzudösen.
Bereits beim Morgenappell präsentierte sich Langbein als ein unerbittlich strenger Feldwebel, der durch militärischen Drill die Leistungsfähigkeit seiner zukünftigen Mitarbeiter ins Unermessliche zu steigern gedachte.
Angefangen wurde wieder mit dem Absingen der ersten drei Strophen seines Firmenliedes, um das sich jedoch offensichtlich keiner seiner Schutzbefohlenen das Wochenende über bekümmert hatte, trotz seiner eindringlichen Ermahnungen am Freitagnachmittag.
Die Herren brummten und die Damen summten in den falschesten Tonlagen zu Langbeins Kampfesgesang.
Dem selbsternannten Impressario gelang es trotz aller verzweifelter Bemühungen nicht, auch nur ein Mindestmaß an Taktgefühl bei seinen Zöglingen zu erzeugen, mochte er auch noch so wilde Grimassen an seinem improvisierten Dirigentenpult schneiden.
Einzig Enrico zeigte bemerkenswertes Geschick als frisch gebackener Chorknabe, wobei ihm sicherlich seine dereinst gesammelten musikalischen Erfahrungen als Sänger in der Kurrende und im FDJ-Singeklub zunutze kamen.
Völlig verzweifelt stampfte Langbein schließlich auf den Boden und schrie:
„Alles sofort aufhören! Sie liefern mir hier ja eine Kakophonie, die sogar einen Hund zum Heulen bringen würde.
Und auch Sie, Herr Pfeffke, meine größte Hoffnung, plärren wie eine ausgeleierte Feuerwehrsirene, daß mir schon ganz wirr davon im Kopfe wird.
Dagegen scheint mir der Herr Walther heute Morgen ganz außerordentlich gut in Form zu sein.
Singen Sie Ihren Kollegen doch noch einmal die ersten beiden Strophen solo vor, damit diese endlich begreifen, wie sich ein ordentlicher Meistergesang anzuhören hat.“
Ganz geschwind schnappte er sich wieder seinen zu einem Taktstock umfunktionierten Füllfederhalter, um den nun tapfer unisono intonierenden Enrico als Dirigent anzuleiten.
Der Sänger meisterte seinen Soloauftritt erstaunlich gut, so daß er seinem Maestro ein begeistertes „bravo“ entlocken konnte.
Dieser kleine Erfolg am Montagmorgen sollte Enricos einziges freudiges Erlebnis während seiner gesamten zweiten Anlernwoche bleiben, denn nun fing die erbarmungslose Fron des praktischen Lernens an. Ganz allmählich wurde der Schwierigkeitsgrad der Aufgabenfelder immer weiter hochgeschraubt. Am Montag begnügte sich Herr Langbein noch damit, sein kleines Grüppchen Zöglinge auf Beobachtungsposten „in die Produktion“ zum bereits geschulten CallCenter-Personal zu entsenden. Hier bemerkte Enrico zum ersten Mal, welchem permanenten Stress die Angestellten der Firma trotz ihrer regelmäßigen Pausen ausgesetzt waren.
Am Dienstag begann Alexander Langbein mit den praktischen Leistungstests.
Diese verliefen folgendermaßen: zunächst durfte jeder der zwölf Lehrlinge einen Zettel ziehen, auf dem ihm ein spezielles Thema für ein viertelstündiges Kundengespräch zugewiesen wurde.
Vor versammelter Klasse mußte dann der Auserkorene ein fingiertes Telefonat mit Langbein als schalk- und boshaften Kunden zur Aufführung bringen.
Während der sich anschließenden fünfzehn Minuten wurde dann innerhalb der Gruppe über die mehr oder weniger erfolgreiche Verkaufsstrategie des betreffenden Prüflings diskutiert.
Zumeist handelte es sich dabei jedoch um belehrende Monologe des Lehrers, der sich diesmal aus Zeitgründen leider – oder besser formuliert: Gott sei Dank – genötigt sah, sein zynisches Spiel auf ein Mindestmaß zu begrenzen.
Das ersparte so manchem Kandidaten eine Menge Häme.
Langbein dagegen schmerzte der Verzicht auf seine bitter-bösen Sarkasmen mächtig, die sich nun in seinem Gallenbereich gefährlich anhäuften, einen günstigeren Zeitpunkt abwartend, der es ihnen erlauben würde, sich in einer befreienden Explosion zu entladen.
Als seine Probanden endlich gegen 16 Uhr den Seminarraum verlassen durften, verkündete ihnen Langbein böse grinsend zum Abschied:
„Ab morgen wird für Sie unwiderruflich der Ernst des Lebens beginnen.
Machen Sie sich auf einiges gefaßt, schließlich ist unsere Firma keine dieser wohltätigen Kirchenvereine, bei denen kostenlos Almosen verteilt werden.
Bereiten Sie sich also bitte zu Hause so gründlich wie möglich auf die Ihnen bevorstehende Feuertaufe vor.“
Dies tat Enrico denn auch.
Bis spät in die Nacht hockte er an seinem Wohnzimmertisch, einen Bleistift in der Hand, mit dem er einen ganzen Haufen Zettel mit Hieroglyphen vollkritzelte, sich dabei immer wieder selbstkritisch korrigierend.
Die verworfenen Skizzen zerknüllte er, um sie mit Schwung unter den Tisch zu schmeißen.
Als er sich gegen Mitternacht von seinen anstrengenden Studien erhob, zeigte sich auf seinem Gesicht ein ungewöhnlich zufriedenes Lächeln.