Stefan 'Sterni' Mösch

Enrico der Verlierer

Eine Erzgebirgstragödie

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Bevor die zukünftigen CallCenter-Agenten ihr erstes selbständiges Kundengespräch führen durften, versammelte sie Herr Langbein nochmals zum Rapport, um ihnen durch eine feurige motivierende Ansprache noch einmal Mut und Kampfkraft einzuimpfen. Seine bevorzugte Strategie zur Werterhöhung ausbeutbaren Humankapitals hatte er von seinen amerikanischen Berufskollegen aus der Tupper-Branche stibitzt, deren auserlesene Raffinesse er von Herzen bewunderte. Natürlich durfte als krönende Eröffnung des Appells sein Firmensong nicht fehlen und Enrico wurde wieder dazu auserkoren, den Vorsänger zu spielen. Ohne daß er diesmal auch nur im mindesten Verlegenheit zeigte, trat er nach vorn. Wie es schien, hatte er sich auf seine Rolle zu Hause gründlich vorbereitet, denn bevor er anhub, holte er noch schelmisch lächelnd einen vollgekritzelten Notizzettel aus der Hosentasche, den er nun vor versammelter Belegschaft feierlich entfaltete. Dann begann er mit scheinbar ehrfurchtsvoller Miene zu intonieren.

„Wenn der Wind von Westen weht,   arme Ossis, ist's zu spät.
Seht die Werbegeier raufen   wolln sich eure Seele kaufen.
Längst ist es um euch geschehn,   sinnlos alles Mitleidflehn.
 
Wenn das Geld im Kasten klingt,   Heuschreck' euch ein Liedchen singt.
Geißleins Wolf zeigt euch die Klauen,   wird den letzten Cent euch klauen.
Hofft nicht auf den lieben Gott.   Freies Deutschland, welch ein Spott!“

Enrico kam nicht mehr dazu, seinen verblüfften Kollegen noch eine weitere Strophe des von ihm zu Hause umgedichteten Worksongs zu Gemüte zu führen, denn Langbein kam sogleich wie von einer Tarantel gestochen nach vorne gerannt, um ihm das Pamphlet aus den Händen zu reißen. Er kochte innerlich gewaltig, das konnte man ihm ganz deutlich ansehen, doch schwieg er zunächst, um sich keine weitere Blöße vor versammelter Mannschaft zu geben.
„Das genügt“, flüsterte er nach einer Weile, nachdem er sich in aller Eile einen groben Racheplan zur Bestrafung dieses üblen Nestbeschmutzers ausgesonnen hatte. Dem ungebildeten Ossi da vor seiner Nase würde er schon bei nächster Gelegenheit die Blamage gründlich heimzahlen.
„Ich wußte ja gar nicht, daß Sie sich auch als Hobby-Poet betätigen, Herr Walther“, flötete er scheinheilig, um dann bereits in etwas strengerem Tone fortzufahren: „Doch dazu werden Sie wohl in nächster Zeit nur noch wenig Gelegenheit finden, befürchte ich. Bleibt zu hoffen, daß Sie bei Ihrer zukünftigen Arbeit im CallCenter mit genau soviel Phantasie Kundenverträge abschließen werden.“
Er räusperte sich verlegen und verkündete dann lauthals: „Jetzt aber hurtig an die Arbeit! Wir haben hier schon lange genug herumgetrödelt. Ihre heutige Aufgabe entnehmen Sie sich bitte diesem Handout.“
Er teilte nun hastig ein Papier aus, auf dem als Überschrift in fetten Lettern gedruckt stand:
„Lektion I: Werbung neuer Mitarbeiter für die VVV GmbH.“
Noch ehe sich die meisten den halbseitigen Text durchlesen konnten, in dem sie aufgefordert wurden, neues Menschenmaterial zum Anlernen anzuwerben, wurden Sie in ungewöhnlicher Schroffheit von Langbein aus dem Seminarraum gestoßen, damit sie endlich ihre Arbeit ein Stockwerk tiefer antreten konnten. „Alles weitere können Ihnen die Kollegen und Kolleginnen im CallRoom mitteilen.“

Das war aber kaum möglich, da diese selbst über alle Maßen mit ihrer Telefoniererei beschäftigt waren. Nur zwei bereits etwas ins Alter gekommene Damen, die gerade ihre erste Frühstückspause machten, erbarmten sich der Neuankömmlinge und zeigten ihnen ihre Arbeitsplätze, winzige Verhaue, die aus Lärmschutzgründen auf drei Seiten mit Glas eingerahmt worden waren. Sie bräuchten nichts anderes zu tun, als die Hörer der andauernd schrillenden Apparate in Empfang zu nehmen. Was sie dann ihren Kunden aufzusagen hätten, das könnten sie auf ihren Zetteln nachlesen. Das genügte in der Regel auch für die ersten selbständig getätigten Anrufe, da die meisten der durch die supermodernen Predictive Dialer in ihrer Privatsphäre aufgestöberten Bürger sowieso gleich wieder auflegten, nachdem sie nach den ersten heruntergespulten Sätzen der Anfänger das faule Spiel durchschaut hatten. Nur in wenigen Fällen entspann sich ein etwas längeres Gespräch. Dann kam es ganz entscheidend auf die Phantasie und die Schlagfertigkeit des betreffenden angehenden Kundenberaters an, um das potentielle Opfer lange genug am Draht zu halten, bis man ihm Ort und Datum der nächsten Anheuerungsversammlung der Firma mitgeteilt hatte.

Trotz der verordneten Pausen waren alle von permanenter Hektik erfaßt. Selbst die „alten Hasen“ kamen gehörig ins Schwitzen, wie man besonders deutlich an dem käseweiß gewordenen Gesicht von Willy Pfeffke ersehen konnte, der trotz aller Bemühungen immer häufiger ins Stottern geriet, bis ihn schließlich die blanke Wut packte und er den Hörer entnervt zurück auf den Apparat knallte. Aber auch Enrico mußte schwer kämpfen, denn freies Sprechen war noch nie eine sonderliche Stärke von ihm gewesen. Dazu kam, daß sich Langbein anscheinend einen bösen Spaß daraus machte, immer wieder um ihn herumzuschleichen. Mitunter nahm er dann auch einen Hörer eines benachbarten Apparates in die Hand, auf dem er offensichtlich Enricos Gespräche mithören konnte. Das machte Enrico noch nervöser, was wohl auch der Hauptzweck dieses boshaften Treibens war. Es dauerte nicht lange, bis Enrico das perfide Arbeitssystem durchschaut hatte, das die Arbeit im CallCenter beherrschte und auf das er sich in solch sträflich-naiver Weise eingelassen hatte. Jetzt begriff er auch, weshalb die Firma das Anwerben neuer CallCenter-Mitarbeiter so wichtig nahm, denn die Ausstiegsquote der neu Geworbenen war gewiß ungewöhnlich hoch. Ein normaler Mensch konnte den Stress auf die Dauer einfach nicht durchhalten, wollte er nicht zu einem gefühllosen Roboter degenerieren. Als nach sechs Stunden seine Arbeit endlich beendet war, fühlte er sich erschöpfter als nach zwölf Stunden Schwerstarbeit in einem Steinbruch.