Stefan 'Sterni' Mösch

Enrico der Verlierer

Eine Erzgebirgstragödie

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Blind und emotionslos schlägt das Schicksal gewöhnlich zu, und was es dem einen nimmt, das schenkt es dem anderen doppelt und dreifach wieder, natürlich nur für eine gewisse Zeit, die im besten Falle ein ganzes Menschenleben ausmachen kann. Doch ganz so fatalistisch, wie es die drei göttlichen Weiber in alten Zeiten trieben, als sie noch stoisch, ohne jemals aufzublicken, ihre Lebensfäden spannen, mögen sie es heutzutage wohl nicht mehr tun. Denn auch an ihnen ging der rastlose Geist der Aufklärung nicht vorüber, ohne Spuren zu hinterlassen. Und um endlich ein wenig Ruhe vor den lästigen menschlichen Störgeistern zu finden, die sich ein jedes Ding, das ihnen um die Köpfe schwirrte, sogleich auch logisch erklären wollten, die auch nicht davor zurückschreckten, sich in den letzten zweihundertfünfzig Jahren immer wieder neue Weltverbesserungsutopien zu erdenken, zu erproben, und sogleich auch wieder zu verdammen und zu zerstören, ohne dabei jemals die Lust an neuen Sisyphusakten zu verlieren, akzeptierten die drei inzwischen in die Tage gekommenen Alten endlich – oder war es vielleicht auch nur ein kurzer Anfall des Erschöpftseins?– daß sich fortan der eine oder andere zur „wahren Erkenntnis“ hervorgekrochene Erdenwurm in dem Glauben wähnen dürfe, sein Leben autonom, selbstbestimmt und eigenverantwortlich zu leben. ‚Jeder ist seines eigenen Glückes Schmied‘, ‚Selbst ist der Mann‘, ‚Arbeit ist für alle da‘ oder ‚Hab' keine Angst vorm Schwarzen Mann‘ wurden allseits beliebte Sprüche in der nun folgenden gutbürgerlichen, scheinheiligen Zeit, die heute im Untergehen begriffen ist. Einigen wenigen Glücklichen gelang es, sich diese naiv-optimistischen Sprüche und deren materielle Durchsetzung bis heute zu bewahren. Das waren all diejenigen, für die die inzwischen zur Hure verkommene Parze Fortuna ein besonders gemütliches und reiche Früchte tragendes Schattenplätzchen auf Erden zugewiesen hatte. In unserem schönen Lande trifft dies heute vor allem auf die immer schmaler werdende Schicht des Geld- und Bildungsbürgertums zu sowie auf deren Lakaien, den Speichelleckern aus den sogenannten „Volksparteien“. Hinter ihrer eingebildeten „gesellschaftlichen Nützlichkeit“, der sie sich in einem fort in der für dumm verkauften Öffentlichkeit rühmen, steckt jedoch in Wahrheit nichts anderes, als die Gefrässigkeit einer Armee von Raupen und Nacktschnecken, die sich über die Beerensträucher und Gemüsebeete in Omas Garten hergemacht hat. Den letzteren kann man ihr schädliches Handeln nicht verdenken, sie wissen es nun einmal nicht besser und im Notfall lassen sich gegen sie Amseln, Indische Laufenten oder gar Insektenvertilgungsmittel einsetzen. Dem Homo sapiens gloriosus et superbus ist dagegen nicht auf solch simple Art und Weise beizukommen, im Gegenteil neigt er häufig dazu, den Spieß einfach umzudrehen und seine beschmarotzten Opfer für die von ihm selbst provozierte Futterknappheit verantwortlich zu machen. Daß es in Wahrheut seine außer Kontrolle geratene Gier ist, die für die ganze Misere verantwortlich ist, will er nicht wahrhaben, und ein jeder, der ihm diese simple Wahrheit unter die Nase reiben will, wird dafür schwer büßen müssen.

Enrico, hineingesetzt in seine kleine beschränkte Welt, von der Natur mit einem einfachen und bescheidenen Gemüt ausgestattet, das auch nie im mindesten daran gedacht hatte, sich um die letzten Ursachen, die unsere Welt bewegen, zu bekümmern, sondern nur bestrebt war, ein kleines beschauliches Lebensfleckchen für sich selbst zu finden, wo es in Harmonie und Geborgenheit existieren konnte, war dagegen dem Schicksal mit seiner ganzen ursprünglichen und zerstörerischer Wucht ausgeliefert. Ihm fehlte der philosophische Geist eines Rudi von Wurstigs, der es in Buddhistisch-Schopenhauerscher Manier kontinuierlich zuwege brachte, sein persönliches Schicksal zu akzeptieren, sich daran zu erfreuen, ja sogar zuweilen darüber lauthals in Lachen auszubrechen. Wurstig errang sich auf diese Weise eine Freiheit, die sich zwar nicht so schillernd wie die der menschlichen Raupen und Schnecken gebärdete, die sich dafür aber durch eine unaufdringliche Wahrheit auszeichnete, die unseren höchsten Lob und Preis verdient. Er hatte sein Lebensglück schon in seiner zartesten Jugendzeit energisch am Schopfe gepackt und es trotz aller Stürme, die im Laufe der Jahre über ihn hereingebrochen waren, niemals losgelassen. Und mit einem Lächeln auf den Lippen würde er auch dereinst einmal von hinnen scheiden, als einer der ganz wenigen Weltenbürger, die es zustande gebracht haben, sich mit ihrem Schicksal auszusöhnen. Zwar ist es auch diesen Lebenskünstlern letztendlich verwehrt, ihrem vorbestimmten Schicksal zu entgehen, doch gelingt es ihnen, sich auf geniale Weise mit diesem zu verbünden, es auf eine Weise zu verinnerlichen und in ihr Ego einzuweben, daß es schließlich eins mit ihrer Seele werden kann und alle Trübsal und Angst dieser Welt in Harmonie und Lebensfreude umzuwandeln vermag.

Es verwundert also nicht zu hören, daß Rudi von Wurstig die letzten Wochen, die Enrico von den schlimmsten existentiellen Sorgen geplagt durchleiden mußte, auf recht heitere und lockere Weise zugebracht hatte. Natürlich war er nicht an dem ihm von Falko Schleicher aufdiktierten Rendezvous am Montagmorgen bei Oberinspektor Böck hinter dem städtischen Rathaus zum Rapport erschienen. Er hatte es stattdessen vorgezogen, in Schwejkscher Manier einen Rheumatismusanfall zu erleiden. Wegen seiner so viele Jahre übermäßig genossenen unsteten Lebensweise hätte in seinem Fall wohl kein normalen Mediziner einen bösen Verdacht geschöpft, mit Ausnahme seines Leib- und Seelenarztes Dr. Buschmann, der die wahren Ursachen solcher obrigkeitlich provozierten Krankheitsbilder sehr wohl zu erahnen wußte, zu ihrer Behebung aber auf sehr sanfte Therapiemethoden zurückgriff, die Rudi von Wurstig im höchst seltenen Bedarfsfalle natürlich gerne in Anspruch nahm. Daß er dafür mit dem Bus ins Nachbardorf fahren mußte, machte ihm nicht das mindeste aus, konnte er doch bei dieser Gelegenheit jedes Mal eine ganze Reihe guter alter Freunde und auch einen ganzen Trupp weniger gute und weniger alte Bekannte aufsuchen, um sich von ihnen beköstigen und bemundschenken zu lassen, daß es jedes Mal eine Freude war, wenn er spät in der Nacht und sternhagelvoll bezecht zurück in die Stadt schwankte.

Dr. Buschmann war ein kräftiger, langwüchsiger Herr, der bereits über siebzig Jahre zählte und seine Dorfpraxis schon seit DDR-Zeiten erfolgreich führte. Er war ein praktisch eingestellter Mensch, der alles Gekünstelte und Aufgesetzte verachtete. Seine ehrliche Meinung versteckte er nie, sondern gab sie stets zum besten, auch wenn dies dem einen oder anderen Dörfler einen Moment lang verletzen mochte. Grob oder ausfällig wurde er dabei nie, denn er besaß einen gutmütigen, mitunter zu leichtem Sarkasmus neigenden humorvollen Charakter alten Schlages. Doch trotz seiner zur Schau gestellten Einfachheit strahlte seine Persönlichkeit eine bescheidene Würde und Eleganz aus, die besonders Menschen, die die Fähigkeit besitzen, etwas tiefer in die Seelen ihrer Mitmenschen zu blicken, in ihren Bann zog. Seine spartanisch zu nennende Lebenseinstellung, die allen leeren Tand und Modeschnickschnack verachtete, wurde abgemildert durch einige kleine Schwächen, auf die der alte Herr keinesfalls verzichten wollte. Zu einer guten Zigarre am Abend genehmigte er sich auch gerne mal ein Gläschen Cognac. Zudem war er ein leidenschaftlicher Skatspieler, der, wurde er einmal vom Spieltrieb gepackt, zuzeiten auch bis spät in die Nacht im Wirtshaus hocken konnte, ohne dabei aber jemals seinen klaren Kopf zu verlieren.

Unzählige Geschichten wurden über ihn erzählt, die ihn zum eigenwilligen Original stempelten. Darunter gab es eine, die von einem Skatspielkollegen handelte, der am folgenden Morgen ganz zeitig früh zur Arbeit mußte und deshalb bereits gegen 23 Uhr den Spieltisch in der Gastwirtschaft verlassen wollte.
„Einen Moment mal“, soll da der kräftige Arzt der Legende nach gesagt haben, den plötzlich Schwachgewordenen mit einem kräftigen Ruck auf seinen Stuhl zurückstoßend, „dein Dilemma kann ich sogleich beheben.“
Ohne ein weiteres Wort zu verlieren, verschwand er aus dem Rauch geschwängerten Schankraum, um in seine Praxis zu eilen, die gleich gegenüber auf der anderen Straßenseite lag. Keine fünf Minuten später kehrte er bereits mit einem Stapel Blanko-Krankenscheine in den Händen zurück.
„Heute ist Mittwoch, den Donnerstag und Freitag gebe ich dir frei, wegen …“ – Er schaute seinem verblüfften Stammtischpatienten einen Augenblick lang prüfend in die Augen und erklärte dann bestimmt, dabei eines der mitgebrachten Formulare ausfüllend: „Wegen Darmverstimmung, einem chronischen Magengeschwür und dem Schiefer, den du dir heute Nachmittag beim Holzhacken in die Hand eingezogen hast, und den ich dir morgen Abend wieder herausziehen werde, damit es zu keiner Blutvergiftung kommt, schreibe ich dich hiermit krank. Und jetzt keine Widerrede mehr! Ich gebe die nächste Runde.“

Nach Angaben von Enricos Schwager Willy Pfeffke, der an besagtem Abend als vierter Spieler mit am Skattisch gesessen haben wollte, soll dann Buschmann seinen Kumpanen eine Runde Nordhausener spendiert und für alle noch im Saale versammelten Trinker Krankenscheine ausgefüllt haben. Diese Version des Geschehens ist aber wohl eher in das Reich der Märchen zu verweisen. Ihr wurde auch ausdrücklich von Pfeffkes Schwager Herbert Kunert widersprochen, der seinerseits behauptete, am Spieltisch gesessen, einen Stonsdorfer spendiert bekommen und einen Krankenschein verweigert zu haben.

Buschmanns Ruf als besonnener, volkstümlicher Arzt sorgte dafür, daß sich in seiner Praxis jeden Morgen eine knappe Hundertschaft Hilfe suchender wahrer und eingebildeter Kranker einfand, einige davon eigens aus der weiteren Umgebung angereist. Niemals mußte bei ihm einer allzulange auf die ärztliche Versorgung warten. Denn die verlief bei Buschmann ungemein schnell, so daß er sicherlich als einer der am schnellsten und zudem auch noch am billigsten praktizierenden Allgemeinärzte in deutschen Landen zu bezeichnen war. Dabei fand er jedoch immer noch genügend Zeit, um mit seinen Patienten einen gemütlichen Plausch zu machen, ehe er ihnen ein einfaches Hausmittel oder eine harmlose Salbe, die höchsten 2 Euro 50 kostete, verschrieb. Ärgeres seinen bedürftigen Hilfesuchenden anzutun, weigerte er sich strikt. Das Geheimnis seiner ungewöhnlichen Flinkheit bestand in seinen berühmt gewordenen knappen aber präzisen Diagnosen, die in der Regel darin bestanden, dem betreffenden Patienten einen Augenblick lang forschend in die Augen zu schauen, um ihm dann seine ausführliche Krankengeschichte zu erzählen. Die Erfindung des Fieberthermometers schien noch nicht bis zu ihm vorgedrungen zu sein, denn die Körpertemperatur bestimmte er durch Handauflegen auf die Stirn, und nur in ganz extremen Fällen kontrollierte er ausnahmsweise auch einmal den Puls, natürlich keineswegs in der Absicht, eine wirkliche Blutdruckmessung durchzuführen, sondern lediglich in dem Bestreben, den sich allzu aufgeregt gebärdenden Patienten zu beruhigen. „18 – 20“, flüsterte er dann leise, und nur seine alte Praxisgehilfin Schwester Gisela wußte, welches Spiel ihrem Patron in diesem Moment durch den Kopf schwirrte.

Trotz der angewendeten archaischen Diagnosemethoden stimmten seine Befunde immer. Dem Gerücht nach soll er einmal sogar durch bloßes In-die-Augen-Schauen bei einem Säugling herausgefunden haben, daß dieser eine Nadel verschluckt hatte. In einem anderen Fall wies er auf die selbe geniale Weise nach, daß einem eingebildeten Patienten von seiner Frau am Morgen Juckpulver ins Unterhemd gestreut worden war. Wenn er sich mit dem Heimgehen beeile, könne er noch den heimlichen Liebhaber seiner Gattin erwischen, der sich dort noch bis halb zehn zum Stelldichein befinden würde.

An der allgemeinen Beliebtheit des Arztes hatten nur sehr wenige etwas auszusetzen, allerhöchstens die Pharmaindustrie und bis vor einigen Jahren auch noch ihr örtlicher Vertreter, der Apotheker Alfons Tümpel, der sich jedoch wegen der konstant niedrigen Medikamenteumsätze im Dorf schließlich gezwungen sah, sein Geschäft in die Kreisstadt zu verlegen, nämlich gleich neben das Krankenhaus und das Altersheim. Dort fand er recht bald eine viel dankbarere Klientel – und bereits nach zwei Jahren konnte er sich eine geräumige Luxusvilla im Dorf und ein Sommerdomizil in der Toskana zulegen. Giftmischerei hat sich eben schon immer bezahlt gemacht! Seither war er auch wieder bedeutend besser auf Dr. Buschmann zu sprechen, dem er ja eigentlich seinen fulminanten Erfolgsprung zu verdanken hatte. Ärgster Feind des philanthropischen Arztes war jedoch schon immer die staatliche Obrigkeit gewesen. Bereits zu DDR-Zeiten hatte sich die Staatssicherheit zuweilen darüber geärgert, daß Buschmann angeblich zu viele Krankenscheine für Arbeitsbummelanten ausschreibe. Diesen bösen Verdacht hatten auch die im Schlepptau der Krankenversicherungen lavierenden bundesdeutschen Ärztekommissionen übernommen, ohne jedoch jemals den mindesten Beweis für ihre böswilligen Behauptungen erbringen zu können, über die sie deshalb auch in der Öffentlichkeit strengstes Stillschweigen wahrten, um nicht die Bevölkerung gegen sich aufzuwiegeln.

Nach diesem kleinen Abstecher aber schnell zurück zu unserem vom Rheumatismus geplagten Helden. Der über Nacht von einer plötzlichen schweren Schmerzattacke befallene Rudi von Wurstig hatte an besagtem Montag bereits den Bus um acht Uhr in der Früh' genommen, um sich in die ärztliche Obhut des erfahrenen medizinischen Spezialisten zu begeben. Als er in den Wartesaal eintrat, wurde er durch ein vielstimmiges Husten, Krächzen und Stöhnen willkommen geheißen, denn die erste Herbstgrippewelle war gerade über das Gebirgsdorf hergefallen und hatte jeden zehnten ausgezählt und mit seinen schweren Krallen gepackt. Rudi suchte sich einen stillen Platz gleich neben dem Holzfeuerofen, der den spärlich eingerichteten Warteraum in angenehme Wärme hüllte. Schwester Gisela, die seit Menschengedenken in Dr. Buschmanns Diensten stand und womöglich noch ein paar Jahre mehr auf ihrem Buckel hatte wie ihr Brötchengeber, schaute ab und zu zu ihren Patienten heraus, um sich über deren gesundheitliches Befinden zu erkundigen und bei der Gelegenheit auch immer gleich ein paar Scheite Holz in den Ofen zu stecken. Auch Rudi wurde von ihr mit einem freundlichen Gruß bedacht und mit einer Aufklärungsbroschüre der Landeskirchlichen Gemeinschaft versehen, bei der sie als Laienpredigerin wirkte. Rudi revanchierte sich sogleich für diesen kleinen Dienst der Nächstenliebe, schnappte sich den großen geflochtenen Korb, der neben dem Kanonenofen stand und eilte hinaus, um im Hof hinter dem Haus Brennholz zu sammeln, daß der Arzt regelmäßig von seinem Nachbarn, dem Kreissäge-Enthusiasten Walter Mörschel, bezog. Bezahlen brauchte er dafür seit fünfundzwanzig Jahren nichts mehr, seitdem er Mörschel nach einem Kreissägeunfall drei Finger der rechten Hand wieder angenäht und dieser in einem ersten Euphorieanfall hoch und heilig versprochen hatte, seinen edlen Retter in Zukunft mit einem reichlichen Brennholzvorrat zu versorgen, und zwar gratis, inklusive unentgeltlicher Anlieferung aus dem Privatwald. Wie lange dieser Kontrakt eigentlich gelten sollte, daran hatte damals freilich noch keiner gedacht. Das hatte zur leidigen Folge, daß die Holzlieferungen aller Wahrscheinlichkeit nach erst mit dem Tode eines der beiden Kontrahenten enden würde, denn eine offene Aussprache über den Fall wäre beiden als ein würdeloser Akt erschienen. Da versagte ausnahmsweise sogar einmal Buschmanns ansonsten so offener Charakter.

Es dauerte auch an diesem Morgen nicht lange, bis Rudi von Wurstig ins Behandlungszimmer gerufen wurde, wo er sogleich von Buschmann mit einem freundlichen Handschlag begrüßt wurde. Beide spürten sie ganz deutlich ihre Seelenverwandtschaft, die ein oberflächlicher Beobachter wohl nie für möglich gehalten hätte. Denn ihr äußeres Erscheinungsbild konnte sich nicht widersprüchlicher vorgestellt werden. Rudi von Wurstig, mit seiner langen, allmählich schütter werdenden Mähne, der roten Trinkernase, dem durch seine extensive Lebensweise faltig und spröde gewordenem Gesicht, dem struppigen Bartwuchs, dem angeschwollenen Bierbauch und bekleidet mit verspeckten ausgewaschenen Jeans und einem alten knallroten, viel zu weiten Damenpullover, den er sich bei einer Kleidersammlung ergattert hatte; Dr. Buschmann dagegen mit seinem kurzgeschorrenen Igelschnitt, einer hohen Denkerstirn, einer schmalen Adlernase und einem strengen schmal geschnittenen Mund, gekleidet in einem schwarzen Anzug, über den er einen weißen Arztkittel gezogen hatte, sowie mit seinen schwarzen ungewöhnlich blank polierten hohen Schuhen, die er auch bei warmem Wetter trug.

Ohne große Begrüßungsfloskeln begannen die beiden Männer sogleich ein lebhaftes Gespräch. Rudi erzählte auf seine drollige und mitunter auch ein wenig übertriebene Weise, wie die Nazis vor kurzem versucht hätten, ihn in seinem Schlummerfaß die Müllhalde hinunterzukullern und Buschmann erzählte ein paar alte Begebenheiten aus seiner Studentenzeit in Dresden.
„Nu sag aber mal Rudi, was dich heute Vormittag bei mir vorbeigetrieben hat“, fragte ihn der Arzt schließlich duzend – denn die beiden waren schon seit langer Zeit per du – und blickte ihm dabei verschmitzt in die Augen.
„An deinem mickrigen Zipperlein kann es ja nun wirklich nicht liegen – und deine Leberwerte scheinen ja auch noch soweit in Ordnung zu sein – bist ja andauernd draußen an der frischen Luft. Ich tippe da viel eher auf einen kleinen Störfaktor von außerhalb, der dir ein wenig zu schaffen macht.“
„Ja, Gustav, du hast's wieder mal genau getroffen, eigentlich müßte ich schon seit zwei Stunden bei dem Böck auf'm Rathaus sein. Doch da fing es heute nacht so gegen halb vier auf einmal ganz heftig an zu piken, vom Rücken bis hinunter zu den Nieren, es war kaum noch zum aushalten. Trotzdem hab ich mich gleich beim ersten Morgenrot aufgerafft, um mit letzter Kraft zu dir zu kriechen. Schau mir doch noch mal in die Augen, vielleicht hast du's ja beim ersten Mal noch nicht richtig diagnostiziert.“
Buschmann tat ihm schmunzelnd den Gefallen, schüttelte dann den Kopf und beugte sich über seinen Schreibtisch, um nach dem Rezeptblock zu langen.
„Diese Ein-Euro-Job-Geschichte, mit der unsere Politiker seit einiger Zeit die kleinen Leute piesacken, könnte wahrhaftig eine neurologisch bedingte Schmerzimagination bei dir hervorgerufen haben, die auf keinem Fall auf die leichte Schulter genommen werden darf. Man weiß ja nie, was da noch so alles dahinterstecken könnte. Ich schreib' dich also erst einmal für zwei Wochen krank. Und getrau dich ja nicht vorher zu diesem Böck, diesen Menschenschinder mit verschleppter Neandertalitis, die ist nämlich extrem hochgradrig ansteckend.“
„Tausend Dank Herr Oberarzt, Sie haben mir das Leben gerettet“, sprudelte Rudi dankbar hervor und wollte sich dem mitfühlenden Arzt theatralisch in die Arme stürzen, um ihn zu küssen und zu herzen. Dieser ruckte jedoch eine ernste Miene mimend ein Stück seitwärts, so daß Rudi beinahe zu Boden gefallen wäre.
„Sachte, sachte, Herr von Wurstig, schonen Sie Ihren Rücken. Sie wären der erste, der sich bei mir in der Praxis einen Schaden genommen hätte. – Einen Gleichgewichtsschaden hast du also auch noch, wie ich leider gerade eben feststellen mußte, das gestaltet deinen Fall noch komplizierter.“
„Aber erst nach dem fünfzehnten Bier“, konterte Rudi lachend, sich wieder zurück auf seinen Patientenstuhl lehnend.
„Aber gibt’s denn heute gar kein Medikament, am besten etwas Hochprozentiges gegen die Schmerzen in der Nacht.“
Dr. Buschmann verschrieb ihm ein paar fünfzigprozentige Tropfen, die sowohl zum Einreiben als auch zum oralen Gebrauch taugten und schüttelte seinem Patienten, der auf einmal wieder putzfidel aussah, zum Abschied kumpelhaft die Hand.
„Also mein Freund, vor allem viel Sonnenschein und frische Luft, das wirkt mitunter Wunder. Ach ja, Holzhacken wäre in deinem Falle auch ganz dringend angeraten, das stärkt die Rückenmuskeln ungemein. Komm doch mal am Donnerstagabend bei mir vorbei, ich hätte da eine kleine Aufgabe für dich.“

Natürlich kam Rudi während der nächsten fünf Wochen jeden Donnerstagabend bei seinem guten alten Freund und Gönner Gustav vorbei, um ihm den Riesenberg Brennholz kleinzuhacken und aufzuschlichten, den Nachbar Walter Mörschel dem Arzt nach der Herbstbeschneidung seiner Bäume in den Hinterhof entsorgt hatte. Hinterher gingen sie dann jedes Mal ins benachbarte Wirtshaus zünftig schmausen, zechen und Kartenspielen. Rudis glückliche Zeit der Rekonvaleszenz hätte gewiß noch eine Weile bis zu den Weihnachtsfeiertagen fortgedauert, wenn nicht nach der fünften Woche ein Brief von der Ärztekontrollkommission der AOK im besetzten Haus eingeflattert wäre. Dort war nämlich neuerdings Rudis offizielle Postanschrift angesiedelt. Ihm blieb nichts weiter übrig, als sich bei einem AOK-Arzt zu einer Kontrolluntersuchung einzufinden, der auch prompt seine absolute Genesung medizinisch feststellte und ein weiteres Fortführen des Krankseins strengstens untersagte. Da half auch Rudis gekonnt zur Schau gestelltes jämmerliches Ächzen und Stöhnen nichts. Da ihm ohnedies sein langwieriger Gesundungsprozeß auf die Dauer immer langweiliger geworden war, kam ihm die AOK-Entscheidung im Grunde genommen ganz recht. Er begnügte sich daher mit einem Attest, das ihm ein allzuschweres Heben untersagte und freute sich ansonsten schon mächtig darauf, am nächsten Montag früh seinen Ein-Euro-Fünfzig-Job bei Oberinspektor Böck antreten zu dürfen. Eine ganze Reihe (kontra‑)produktiver Pläne hatte er bereits ausgesponnen, um die anstehende triste Arbeit so interessant und gemütlich wie möglich zu gestalten.