Stefan 'Sterni' Mösch
Enrico der Verlierer
Eine Erzgebirgstragödie
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Montag, der 22. Oktober 200x, war ein trüber naßkalter Tag. Punkt acht Uhr in der Frühe versammelte Böck sein trauriges Trüppchen im Hof des Rathauses, um ihnen die für den laufenden Arbeitstag zu erledigenden Aufgaben zuzuweisen. Dies ging gewöhnlich recht schnell vonstatten, denn Böck war kein Freund von langenwierigen Diskussionen. Hatte einer mal zu meckern, so mußte er sich nach Arbeitsschluß um 16 Uhr 30 in seinem Büro im Hauptgebäude einfinden. Der private Zutritt zu diesen geheiligten Gemächern war während der offiziellen Öffnungszeiten nur Normalbürgern erlaubt, den kommunalen Zwangsbeschäftigten aber strengstens untersagt. Denn das hätte womöglich dem sauberen Image der Stadtverwaltung geschadet, das der Bürgermeister in der Öffentlichkeit so sorgfältig pflegte. Dieses Hausverbot traf natürlich nicht für die nach Tarif Ost bezahlten und durch den ÖTV vorzüglich betreuten regulären städtischen Gemeindearbeiter zu, für die die „Residenz“ Kuhns jederzeit weit offen stand, sei es, um sich eine Weile auf das herrschaftliche Klo zu verziehen, sei es aus irgendwelchen anderen mehr- oder minderwichtigen Gründen wie zum Kaffeetrinken oder dem heimlichen Tratschen über gerade kursierende Stadtgerüchte.
Der Kontakt zwischen den privilegierten Arbeitern und Angestellten des Rathauses und Böcks Zwangsrekrutierten der „Langzeitarbeitslosenkorrekturmaßnahme“ – so die offizielle Betitelung der innovativen Armutsbekämpfungskampagne im Amtsjargon – beschränkte sich auf die allernötigste Kommunikation, die sich zumeist auf barsche Arbeitsanweisungen bzw. Verweise der hierarchisch Übergeordneten an die ihnen Untergeordneten beschränkte. Die Entwicklung von kollegialen Beziehungen zwischen den beiden separierten Klassen galt als unerwünscht – und ein jeder verhielt sich natürlich auch danach. Die einen, weil sie um ihre Privilegien fürchteten, die ihre Gewerkschaft im Laufe der Jahre für sie durchgesetzt hatte, die anderen, um in kein Fettnäpfchen zu treten. Kuhns raffiniert zur Anwendung gebrachtes Teile-und-Herrsche-Prinzip klappte ausgezeichnet, denn recht bald bildete sich ein jeder Gemeindearbeiter wer weiß was darauf ein – und wäre es auch bloß der letzte Straßenfeger und Toilettenputzer gewesen – daß er in der Werteskala weit über den „Taugenichtsen“ in ihrer „schmutzigen Baracke“ stehe. Zudem wurden alle bisher angefallenen niedrigen Arbeiten seit dem September von den „HIV-Idioten“ – wie sie häufig herablassend genannt wurden – übernommen. Stand den Gemeindearbeitern ein frisch renovierter Pausenraum im Erdgeschoß des Rathauses zur Verfügung, natürlich mit Kochnische und weiteren Annehmlichkeiten des modernen Lebens ausgestattet, so mußten sich die „HIVler“ mit dem ehemaligen Kohlenbunker mit hölzernem Vorbau begnügen, in dem man etwas Platz für die benötigten Spinde und einen Verlies zum Essenfassen geschaffen hatte. Zum Aufwärmen stand lediglich ein Heißlüfter zur Verfügung. Eine ordentliche Heizung wurde nach einem zynischen Kommentar Böcks auch nicht benötigt, da im Normalfall dort auch niemand etwas zu suchen hätte, ausgenommen zum Umziehen zu Arbeitsbeginn und zum Feierabend sowie zu den Pausenzeiten bei besonders schlechtem Wetter. In der hintersten dunklen Hofecke, am Zaun zum unbewohnten Nachbargrundstück, stand ein Dixiklo, das im weiten Umkreis einen solchen üblen Gestank verbreitete, bis sich schließlich sogar die Gemeindarbeiter und einige Rathaussekretärinnen über das „Dreckloch“ beschwerten und forderten, das Behelfsklo solle doch in die Brache nebenan oder besser noch an eine heimliche Stelle am Flußufer umgesetzt werden, denn von dort aus könne die ganze Scheiße ja am allerleichtesten ins Wasser abgeleitet werden. Inzwischen hatte sich der Aufruhr ein wenig gelegt, da die Betroffenen nur noch im höchsten Notfalle ihr „stilles Örtchen“ aufsuchten, es ansonsten aber bevorzugten, ihre Notdurft an ihrem jeweiligen Einsatzort in der freien Natur zu erledigen.
An jenem besagten denkwürdigen Morgen im Oktober reihte sich also auch Enrico in den Troß der hoffnungslos Entrechteten ein. Seine Bedrückt- und Nervösheit wurde ein wenig gedämpft, weil er sogleich ein paar alte Bekannte entdeckt hatte, die er noch von der „guten alten Zeit“ her kannte. Nur beiläufig hörte er auf die knarrende Stimme von Böck, der ihn mit dem „Strafbataillon“ zum Steineklauben im Fluß verurteilte. Die Bezeichnung „Strafbataillon“ für das kleine Untergrüppchen, das die schwersten und dreckigsten Arbeiten unter den Zwangsverpflichteten zu erledigen hatte, war natürlich keineswegs amtlich korrekt, wurde aber von jedermann benutzt, sogar von den persönlich Betroffenen selbst, weil sie den Nagel genau auf den Kopf traf. Die Mitgliedschaft in dieser niedrigsten hierarchischen Kaste der Entrechteten wurde willkürlich vom Oberinspektor festgelegt, dem damit ein ideales Werkzeug in die Hand gegeben worden war, um die interne Konkurrenz und das gegenseitige Mißtrauen innerhalb dieses Elendshaufens am Leben zu erhalten. Auch diese böse Schikane wurde von den Betroffenen ohne jeden Widerspruch erduldet und von so manch einem, der sich ein winziges Zoll höherstehend wähnte, sogar heimlich begrüßt. Denn auch der niedrigste Sklave braucht bekanntlicherweise einen Hund, dem er bei Bedarf in den Arsch treten kann.
Ehe er seinen Schicksalsgefährten nachtraben durfte, erhielt Enrico im Bunker noch die obligatorische Arbeits- und Brandschutzbelehrung. Mit dieser nahm es der „Oberinspektor“ besonders genau: Schließlich war er ja zu DDR-Zeiten Kampfgruppenchef, stellvertretender Vorsitzender der Freiwilligen Feuerwehr, verdienter Helfer der Volkspolizei, Sicherheitsbeauftragter für alle Arbeits- und Brandschutzfragen im Stadtrat sowie NDPD-Kreischef gewesen. Aus jener glückseligen Zeit stammte auch sein Spitznamen „Oberinspektor“, den er als Ehrenauszeichnung für seine zahlreichen haupt- und nebenberuflichen Aktivitäten auffaßte und mit Genugtuung akzeptierte, auch wenn er rechtlich eigentlich keinen Anspruch darauf hatte. Genaugenommen war er in Wahrheit zeit seines Lebens nur ein subalterner Ordnungsamtsangestellter gewesen, der erst vor wenigen Jahren nach seiner Konvertierung von der in Auflösung begriffenen DSU- zur CDU-Ortsgruppe zum Ordnungsamtschef ernannt worden war. Zu einer Verbeamtung hatte es leider nicht mehr gereicht, da er inzwischen bereits knapp sechzig Jahre zählte.
Nach Böcks strengen väterlichen Ermahnungen wurden Enrico zu guter Letzt noch ein paar Gummistiefel überreicht, die zwar einige Nummern zu groß waren, in die aber zum Ausgleich dafür noch ganz bequem drei Lagen extradicker Wollsocken gegen die feuchte Kälte im Flußbett paßten.
„Da werden Sie schon noch hineinwachsen, Herr Walther, genauso wie in Ihre schöne wattierte Jacke.
Mit der können Sie noch ganz bequem bei minus 30 Grad Schnee schippen.
Wenn Sie hier bei uns ganz brav Ihre Arbeit machen, dann gibt’s gewiß keine Probleme … Und merken Sie sich auch bitte ein für alle mal, der Genuß von Alkohol ist während der Arbeitszeit strengstens untersagt, ansonsten … Aber was ist denn das? Das kann doch wohl nicht wahr sein?!“
Böck bekam auf einmal vor Verwunderung kugelrunde Augen und rannte eilig zur Türe, in der gerade eine riesenhaft erscheinende Silhouette aufgetaucht war, einen langen Schatten in das Barackeninnere werfend.
Bei dem mysteriösen Unbekannten in Jeans und Jesuslatschen, der sich über seine Schultern lässig einem alten abgeschabten Hirschröhrbeutel aus den 80er Jahren gehängt hatte, aus dem es verdächtig klimperte, war kein anderer als Rudi von Wurstig.
Das erkannte auch Böck nach einem kurzen Augenzwinkern, denn schon allzuoft hatte er als Ordnungsamtschef mit diesem impertinenten Subjekt zu tun gehabt, zumeist wegen nächtlicher Ruhestörungen oder der Verschmutzung öffentlicher Plätze.
Außerdem hatte ihm noch am Freitagabend Kollege Falko Schleicher das Erscheinen des Unholdes prophezeit.
Durch die Hektik beim Morgenappell war dieses bedeutsame Fak- und Fatum seinem sonst so wachem Geiste eine zeitlang völlig entglitten, um jetzt plötzlich mit aller Wucht auf ihn hereinzustürzen.
„Herr von Wurstig, wie ich feststellen muß, kommen Sie bereits an Ihrem ersten Arbeitstag eine knappe Stunde zu spät.
Diese Tour müssen Sie sich bei uns aber schnellstens abgewöhnen, ansonsten haben Sie mit einer Meldung beim Jobcenter und einer dreimonatigen Sperrung ihres Geldes zu rechnen.
Und nehmen Sie gefälligst den Griebsch aus dem Maul, wenn ich mit Ihnen rede.
Nehmen Sie doch Haltung an, Mann!“
Gelangweilt spuckte Rudi den Rest des abgenagten Apfels in eine Ecke, ganz knapp an der großen runden Nase Böcks vorbeizielend, die vor Aufregung fast genauso rot angelaufen war, wie der Zinken seines zukünftigen Gegenspielers.
Gemächlich um sich schauend erwiderte der notorische Unruhestifter dann:
„Sehr hübsch haben Sie es hier unten für uns eingerichtet.
Wo sind denn eigentlich die Duschen? Sicherlich eine Treppe tiefer.
Da will ich doch gleich mal …“.
„Was wollen Sie gleich mal, Sie, Sie …“, fing da Böck ganz plötzlich sprachlos geworden über die Frechheit des ungezogenen Bengels an zu stottern.
„Natürlich duschen.
Die städtische Wasserversorgung hat uns im ‚Haus‘ wieder einmal das Wasser abgedreht.
Da wird es doch für einen anständigen Menschen erlaubt sein, seine Morgentoilette auf Arbeit zu erledigen.
Übrigens, hätten Sie vielleicht noch etwas Rasiercreme, mein Bart kratzt mir schon so scheußlich seit ein paar Tagen.“
Und er zerrte an seinem krausen Bart, ein kleines Büschel davon herausrupfend und dem Oberinspektor vor die Nase haltend.
„Da schauen Sie doch mal, so ungepflegt kann ich doch beim besten Willen nicht meinen verantwortungsvollen Job beginnen, bei dem die Ehre meiner Heimatstadt auf dem Spiel steht.
Also laß mich endlich Revue passieren, Meister Böck.“
Noch immer stand Oberinspektor Böck wie angewurzelt am selben Fleck, völlig sprachlos vor Entsetzen über das freche Treiben dieses adligen Strauchdiebes und ganz im Gegensatz zu seiner gewöhnlichen rauhen Art, die nichts so leicht aus dem seelischen Gleichgewicht werfen konnte.
Er holte tief Atem, um mit Mühe die angemessenen ermahnenden Worte, die ihn als fähige Führungspersönlichkeit auszeichneten, zu finden:
„Ihre Banausen werden wir Ihnen schon in Bälde austreiben.
Ich wurde vor Ihnen bereits nachdrücklich gewarnt und habe mir deshalb für Sie eine angemessene Sonderbehandlung ausgedacht.
Doch jetzt kommen Sie erst einmal mit, denn da unten würden Sie Ihre Dusche sowieso umsonst gesucht haben, denn so eine gibt es hier für Leute wie Sie glücklicherweise nicht.“
Er packte den einen Kopf Größeren am Hemdsärmel und zog ihn mit sich hinaus auf den Hof, wo sich zwischen den beiden eine hitzige Diskussion entspann, die an die dreißig Minuten dauerte.
Währenddessen wurde Enrico im Bunker völlig vergessen.
Er stand noch immer völlig verdattert an dem Tisch, an dem ihn Böck zurückgelassen hatte.
Und so eingeschüchtert wie er war, getraute er sich auch nicht, bei den beiden Schreihälsen da draußen vorbeizuhuschen.
Also setzte er sich, um es sich so bequem wie möglich zu machen und wartete bis gegen zehn Uhr, dem Zeitpunkt, an dem die zwei Streithähne endlich völlig abgekämpft wieder im Bunker erschienen.
Böck war fürwahr erstaunt, dort noch immer sein Schäfchen Enrico in Habachtstellung vorzufinden, denn dieser hatte sich bei seinem Eintritt wohlweislich sofort von seinem Stuhle erhoben.
„Sie auch noch hier, Walther? Ich dachte, Sie wären schon längst draußen bei Ihren Kollegen in der Bleiche! Da habe ich es also heute gleich mit zwei Faulenzern zu tun, die zur Raison gebracht werden müssen.“
Ohne weiteres Federlesen wurde nun Rudi in seine neue Arbeitskluft gesteckt, um dann gemeinsam mit Enrico zum Arbeitsplatz geschleift zu werden.
Das tat Böck dieses Mal höchstpersönlich, um eventuelle Fluchtversuche der widerspenstigen neuen Zwangszugeführten von vornherein zu verhindern.
Dort angekommen, übergab er die beiden Bummelletzten an Egon den Vorarbeiter, der wegen seiner verantwortungsvollen Position zwei Euro pro Stunde bekam.
Die fünfzig Cent Extravergütung wurden „Egon dem Vorarbeiter“ von allen von Herzen gegönnt, denn dadurch war er in eine höchst unglückliche Position gehievt worden, die ihm bestimmt kein anderer auch für stolze fünf Euro pro Stunde auch nur vertretungsweise abgenommen hätte.
Einem Unteroffizier vergleichbar, der sich bei seinen Untergebenen nicht durchsetzen kann, weil es ihm an Schmiß und boshaftem Charakter mangelt, war er gleichzeitig den ständigen Vorwürfen seiner Vorgesetzten ausgesetzt, die ihn als V‑Mann und Spitzel seiner Brigade mißbrauchten und ihn für jedes noch so kleine auftretende Problem – und sei es auch nur das schlechte Wetter – persönlich verantwortlich machten.
Als Dank für seine Gutmütigkeit und Servilität mußte er von Böck und allen anderen selbsternannten Tugendwächters im Weichbild des Rathauses fortwährend Ermahnungen, Kritiken und Zurechtweisungen einstecken.
Wegen eines kleinen Sprachfehlers wurde er von allen gehänselt, was dazu führte, daß sein Stottern immer schlimmere Formen annahm.
Schließlich öffnete er seinen Mund nur noch, wenn er gezwungen war, seine Kollegen in neu anfallende Arbeiten einzuweisen.
Eines mußte man ihm trotz seiner schwachen Vorarbeiterfunktion dennoch zugestehen: er war ein äußerst geschickter Arbeiter, der es zu DDR-Zeiten in der VEB Arsenikhütte „Roter Oktober“ bis zum Brigadier gebracht hatte, mehrfach als Aktivist und sogar einmal mit einer Urlaubsreise auf die Halbinsel Krim ausgezeichnet worden war.
Doch mit der Wende wurde die Arsenik- und Bleiproduktion auf einmal drastisch zurückgefahren, weil es keinen gesellschaftlichen Bedarf mehr für die Herstellung von Giften gab, die nun exklusiv aus dem Westen in die nun treuhänderisch ausgebeutete Heimat eingeführt wurden.
Das hatte dem Gerücht nach vor allem damit zu tun, daß in den alten Bundesländern seit jeher die besseren Giftmischer lebten, die schon wegen ihrer Sozialisation viel bessere Meuchelmörder abgaben, wie ihre ungeliebten post-sozialistischen neuen Mitbürger im Osten.
„Hier Egon, die beiden Neuen, auf die du ein ganz scharfes Auge werfen mußt, weil die, wie es scheint, das Arbeiten noch nie so richtig gelernt haben.
Setz' sie ruhig für die schwersten und dreckigsten Arbeiten ein, die sind beide noch jung und zäh.“
Egon nickte zustimmend und gab Enrico und Rudi einen Wink, ihm in den Matsch unter die Flußbrücke zu folgen, wo sie aus dem Schlamm schwere Steine heben mußten, um sie auf eine Schubkarre zu verladen, die dann von einem mageren, ungemein keuchenden Mann mit Raucherhusten bis zu den Frauen an die zu errichtende neue Öko-Bachmauer gerollt wurde.
Zum Unterstellen gegen plötzliche Regenschauer gab es nur den beengten Platz unter der Brücke, ansonsten mußten die provisorischen Plastiküberzüge, die die behördlich Verdammten über ihren Arbeitsjacken trugen, sie vor den Unbilden der Natur schützen.
Nur widerwillig und zähneknirschend beteiligten sich Rudi und Enrico bis zur Mittagspause an dem traurigen Treiben.
Nur selten wurden ein paar Worte unter den Arbeitern ausgetauscht.
Es war hier ganz anders, wie noch vor wenigen Jahren bei der ABM, wo man noch gemeinsam Witze gemacht, gelacht, gesungen und getrunken hatte.
Heute verspürte anscheinend keiner mehr das Bedürfnis, sich über seine Leiden mit seinem Nächsten zu unterhalten, womöglich aus Furcht, bloß Spott und Zynismus für seine Offenheit zu ernten.
„Hier muß sich ganz dringend etwas ändern“, flüsterte Rudi seinem neuen Kompagnon Enrico zu, „sonst gehen wir bald alle vor die Hunde.
Doch nimm erst mal 'nen Schluck aus meiner Feldflasche, das tut gut bei diesem Sauwetter.“
Dann schlüpfte er wohl schon zum zehnten Mal in sein Versteck hinter ein paar Büschen, wo er seine „speziellen Vorräte“ gelagert hatte.
Egon der Vorarbeiter hatte natürlich bereits seit längerem das heimliche Treiben seines beiden Neuen beobachtet und näherte sich nun Rudi vorsichtig mit einer Schaufel, um diesen wieder zurück in das Flußbett zu treiben.
Obwohl der Angriff wohl nicht ganz so ernst gemeint war, wie es im ersten Augenblick den Anschein hatte, kannte Rudi in solchen Dingen keinen Spaß.
Sogleich entriß er dem verblüfften Vorarbeiter das zweckentfremdet verwendete Arbeitsgerät, um es in weitem Bogen in die Bleiche zu werfen, wo es sofort in einem wirbelnden Strudel verschwand.
„Nicht einmal in Ruhe pinkeln gehen kann man hier bei deinem Sauhaufen“, fuhr er den Erschreckten an, klopfte ihm aber sogleich leutselig auf den Rücken, weil Egon der Vorarbeiter gerade im Begriff stand, einen Erstickungsanfall, ausgelöst durch den plötzlichen Schock, zu erleiden.
„War ja nicht so schlimm gemeint, altes Haus.
Meine schwache Blase verträgt nun mal nicht das Herumgestiefel in der eiskalten braunen Brühe.
Wegen der Schaufel im Fluß mach dir mal keine Sorgen, die stört dort sicherlich keinen.
Und U‑Boote werden ja wohl hoffentlich auch keine vorbeikommen.
Übrigens haben wir jetzt Mittagspause, die wollen wir uns doch keineswegs von denen im Rathaus vergällen lassen.“
Er legte seine Hand wie einen Trichter an seinen Mund und rief laut schallend den anderen schuftenden Arbeitern zu: „Achtung, Achtung, hier spricht die Polizei! Bitte begeben Sie sich sofort zur Sammelstelle zur Fütterung.
Es ist bereits angerichtet!“
Das ließ sich keiner zweimal sagen.
Im Nu hatte sich das verlorene Häufchen Miserabler unter der Brücke im halbwegs Trockenen versammelt, wo ein jeder daran ging, seine Thermoskannen und belegten Brote auszupacken, um sich notdürftig zu verpflegen.
Rudi wühlte in seinem Hirschröhrbeutel herum und brachte schließlich eine große Flasche mit braunem Inhalt zum Vorschein.
„Guter tschechischer Rum“, flüsterte er geheimnisvoll zwinkernd den anderen zu.
„Das absolut beste Heilmittel gegen Kälte und zu große Feuchte.
Reicht mal alle eure Trinknäpfe her.“
Verblüfft und skeptisch wurde Rudi von dem kleinen Verlierertrüppchen gemustert, das neben den beiden Neuankömmlingen aus fünf Männern und vier Frauen, alle bereits über die vierzig, bestand.
Enrico merkte deutlich, was ihnen allen in diesem Moment durch die Köpfe schwirrte, nämlich die heikle Frage, ob es erlaubt sei, einen Schluck Alkohol von dem stadtberüchtigten Trunkenbold anzunehmen, ohne dadurch ein My an Ansehen in der auch in dieser armseligen Gruppe penibel eingehaltenen hierarchischen Ordnung zu verlieren.
Lust zu einem herzhaften Schluck aus Rudis Flasche verspürten schon die meisten, denn heute war das Wetter wirklich zum Zähneklappern.
Doch keiner getraute sich den Anfang zu machen.
Da gab sich endlich Enrico einen Ruck, denn er hatte als Anfänger noch am wenigsten an Reputation zu verlieren.
Er ergriff von Wurstigs 0,66‑Liter-Flasche und goß sich einen angemessenen Schluck in seine alte Plastikthermoskannentasse, dankte mit einem kurzen Kopfnicken dem edlen Spender und wandte sich dann aufmunternd lächelnd an seine neuen Arbeitskollegen in der Runde:
„Na, faßt schon zu, sonst erkältet ihr euch noch.“
Kettenraucher Franz ließ sich das nicht ein zweites Mal sagen.
Er langte nach der Flasche und goß nun reihum allen weiteren Kollegen einen Schluck des guten hochprozentigen Tropfens ein, dabei das Maß genau abwägend, damit auch keiner zu kurz komme.
Nur Egon hielt verlegen die Hand über seine Kaffeetasse.
„D-d-d-d-as schmeckt doch nicht zum Kaffee,“ wimmerte er kläglich, seine blau angelaufenen Hände an der Kanne wärmend.
Doch sein schwacher Protestansatz wurde von Franz kurzerhand über den Haufen geschmissen.
Ehe er es sich versah, hatte ihm sein Leidensgefährte schon mit sanfter Gewalt die Tasse entwunden und mit einer doppelten Portion Rum gefüllt.
„Als unser Vorarbeiter hast du dir einen besonders großen Schluck verdient, hast ja heute auch wieder einmal wie für zwei gebüffelt.
Laß dir's schmecken.
Man wird dir deswegen schon nicht kündigen.“
Alle begannen auf einmal zu lachen, Franz kämpfte zugleich mit einem jähen Hustenanfall, der ihm die Tränen aus den Augen trieb und selbst Egon verzog sein Gesicht einen Moment lang zu einem gequälten Lächeln.
„Also auf euer Wohl“, sagte er schließlich, ohne sich im mindesten zu verhaspeln.
„Bis zum Feierabend müssen wir aber noch mal tüchtig ran.“
Die sich mühselig hinziehende Fron am Nachmittag ging heute allen irgendwie viel leichter von der Pelle. Zum ersten Mal seit Beginn der Arbeitszwangsmaßnahme wurde nun von Zeit zu Zeit gelacht und ab und an auch mal ein harmloser Witz gerissen. Als man gegen 16 Uhr das Werkzeug in den Schuppen im Rathaushof zurückbrachte, konnte es Oberinspektor Böck einfach nicht fassen: Auf den Gesichtern seiner willfährigen Opfer lag ein leichtes Lächeln, das ihm verdächtig nach Aufmüpfigkeit und Frohsinn roch. Die Ursache hierfür erschien ihm rätselhaft, doch würde er sie schon am nächsten Morgen herauszufinden wissen.