Stefan 'Sterni' Mösch

Enrico der Verlierer

Eine Erzgebirgstragödie

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Multi-Karl flitzte so schnell wie möglich zu Polizeichef Richter, mit dem er seit Jahren schon per du war, um den böswilligen Beißangriff durch den Hilfsarbeiter Rudi von Wurstig zur Anzeige zu bringen. Richter-Gunt riet ihm, schnellstmöglich auch noch einen Facharzt aufzusuchen, um sich auf Tollwut untersuchen zu lassen. Wegen der vielen Ratten am Fluß müßte man in diesem außergewöhnlichen Fall mit dem schlimmsten rechnen. Das Unglück wollte es, daß er bei Dr. Buschmann landete, der sich einen Jux aus der Sache machte und Karl sogleich mit einem Krankenwagen zur Spezialbehandlung nach Leipzig abtransportieren ließ, wo er die nächsten sechs Wochen verbringen mußte. Dort wurde er einer ganzen Reihe von Spritzexperimenten unterworfen, denn die Pharmaindustrie hatte gerade ein neues Medikament für die Dritte Welt entwickelt, das sie bei einem arglosen Ossi ausprobieren wollte. Multi-Karl konnte zwar von seiner angeblichen Tollwutansteckung erfolgreich geheilt werden, doch fielen ihm im Laufe der Behandlung die Schamhaare aus, und was noch schlimmer wog: seine ohnehin schon etwas piepsige Stimme erhöhte sich um eine halbe Tonleiter. Deshalb wurde er nach einem kurzen Weihnachts-Urlaub im Gebirg erneut als wissenschaftliches Versuchskarnickel in Beschlag genommen und zu einer Kur zu den BASF-Giftmischern nach Basel geschickt, von wo er erst im nächsten Herbst lammfromm und re-degeneriert in die geliebte Haamit zurückkehren konnte. Auf eine Anzeige von Wurstig hatte er zu diesem Zeitpunkt schon längst verzichtet, da er sein Gedächtnis verloren und eine staatliche Invalidenrente wegen seines erlittenen Arbeitsun- und Gehirnausfalls zugesprochen bekommen hatte. Auch eine neue Lebensgefährtin hatte sich eingestellt, die sich bereiterklärte, mit dem total senil gewordenen Karl ins Bett zu gehen, natürlich nur unter der Bedingung, daß dieser sich verpflichtete, mit ihr binnen eines Jahres in den Bund der Ehe zu treten. Die zukünftige Braut nahm sodann Karls Rente unter Treuhandverwaltung, um den Großteil davon mit ihren zahlreichen alten Freunden in den Kaschemmen und Nachtbars der näheren und weiteren Umgebung zu vertrinken.

Doch kehren wir wieder zurück zu unseren kleinen Helden, mit denen es das Leben nicht ganz so gut meinte, wie mit den Bösewichtern aus der Gewerkschaft und den anderen obrigkeitlichen Lobbyverbänden. Pünktlich um 13 Uhr begann die von Rudi einberufene Krisen-Brigadesitzung. Mit Unterstützung seiner Hausbesetzer-Freunde hatte er bereits eine Forderungskatalog, adressiert an den Herrn Bürgermeister, erstellt, den er seinem treuen Trüppchen nun verlas. Er erntete allgemeine Zustimmung, besonders für Punkt 1, der eine tarifliche Bezahlung und eine arbeitsrechtliche Gleichstellung mit den offiziellen Gemeindearbeitern forderte. Natürlich kamen auch das Urlaubs- und Weihnachtsgeld, Prämienzahlungen für fristgerechte Planerfüllung, das Mitbestimmungsrecht im Betriebsrat bei gleichzeitigem Ausschluß der ÖTV-Spitzel, die Einrichtung einer Kantine für eine kommunegestützte Pausenversorgung, eine fünfstellige finanzielle Abfindung bei Entlassung und vieles andere mehr zur Sprache. Besonderer Applaus wurde auch Punkt 13 gezollt, in dem es wortwörtlich hieß:
„Alle bei der Gemeinde beschäftigten Arbeiter fordern zudem, ihre Notdurft zukünftig unter zivilisierten und hygienisch einwandfreien Bedingungen verrichten zu dürfen. Dies ist zweifellos auf dem „stillen Örtchen“ des Herrn Oberbürgermeister in der Chefetage des Rathauses gewährleistet. Sollte dem Obgm. eine gemeinsame Klobenutzung Kummer bereiten, so verweisen wir ihn gefälligst auf das Dixi-Klo im Hof.“
Hinter jeder Forderung waren natürlich in Klammern die jeweiligen Paragraphen des Arbeitsgesetzbuches gefügt, was Marianne zu dem erstaunten Zwischenruf veranlaßte:
„Woher du das nur alles weißt, Rudi? Früher dachten wir alle, du wärst …“.
„Ich wäre bloß 'n Knacki, versteh' schon. Aber die Wahrheit sieht eben häufig ein bißchen anders aus, wie sie im ersten Moment erscheint, meine Damen und Herren.“
Einmal in Fahrt gekommen, erzählte Rudi seinen gespannt lauschenden Zuhörerrn ausführlich von seinen imaginären Arbeitserfahrungen und den Mühsalen, die seine verarmten adligen Vorfahren die letzten einhundertfünfzig Jahre über hatten erdulden müssen. Über Bismarck und die Sozialistengesetze näherte er sich langsam der Novemberrevolution, ohne den Verlust des rechten Beines seines Urgroßvaters in der alliierten Champagne-Kampagne im April 1917 zu vergessen. Dessen beide berühmt gewordenen Kampfesrufe auf den Berliner Barrikaden hatten urkundennachweislich gelautet: „Haut wacker drauf, Glück auf!“ sowie „Auch ohne zwee Baa, schmeiß ich Pflasterstaa!“ Rudis Großvater schließlich habe dann einige Jahre später auf eigene Faust in den Brandenburger Urstromtälern nach Silber geschürft, ehe er von einer mächtigen Bergbaufirma zwangsweise unter Kontrakt genommen wurde.
„War 'ne schwere Zeit, aber schließlich konnte Opi 1928 doch eine saftige Lohnerhöhung und die Einführung der Vierzigstundenwoche durchsetzen. Als diese seinem Sohn dann anno '43 beim Rußlandfeldzug gestrichen wurde, nahm der das zum Anlaß, sich so schnell wie möglich zu den Russen aus den Staub zu machen, um in den Kohlengruben des Kusnezkbeckens Adolf Hennecke bei der Vorbereitung seiner Höchstleistungsschicht ein paar Jahre später zu beraten.“
„Aber wie sieht's denn mit dir persönlich aus?“, fragte da der Kettenraucher Franz, sich schon wieder eine neue Zigarette ansteckend. „Wie ich gehört habe, hast du ja zu DDR-Zeiten jede reguläre Arbeit immer strikt abgelehnt.“
„Das ist schon wieder ein ganz anderes Kapitel meiner Familiensaga“, konterte auf diesen leisen Vorwurf leicht schmunzelnd unser adliger Ritter. „Meine Familie war eben schon immer ein paar Jahrzehnte den sozialen Forderungen ihrer Zeit voraus. Da leistete ich mir eben bereits zu sozialistischen Zeiten den Kommunismus, den wir ja gerade in Begriff sind, hier in unserer Heimatstadt einzuführen.“
Zu guter Letzt gelang es Rudi schließlich, alle Arbeitskollegen von allen seinen revolutionären Forderungen zu überzeugen. Er brachte eine Unterschriftenliste zum Vorschein, auf der er bereits alle Punkte mit einem dicken schwarzen Filzstift aufgezeichnet hatte. Ein jeder mußte nun seine Unterschrift unter das Pamphlet setzen, und zwar in einer Rosette angeordnet, so daß die städtische Obrigkeit keinesfalls einen Rädelsführer ausmachen konnte.
„Das wurde schon immer so gemacht,“ klärte der passionierte Hobbyhistoriker seine Leidensgefährten vor Stolz gebläht auf. „So, dann hätten wir also für heute unseren Tagesplan geschafft. Ich gebe euch für den Rest der Arbeitszeit kältefrei und erwarte euch alle morgen früh pünktlich um acht Uhr auf dem Rathaushof, um dort den nächsten Akt unserer Revolutionsoper zu inszenieren. Kuhn und Böck werden sicherlich riesengroße Augen machen, wenn ich meinen Aktionsplan realisiere. Außerdem hoffe ich, daß sich auch recht viele von unseren etwas privilegierteren Mitarbeitern unserer gerechten Sache anschließen werden.“
Nach diesen pathetischen Schlußworten rollte Rudi seinen Schlafsack ordentlich zusammen, huckelte ihn mit seinem übrigen Kram auf die Schultern, winkte seinen verblüfften Kollegen noch einmal freundlich zu und verschwand dann um die Ecke.
„Und was wird mit unseren Schubkarren?“, fragte da Müller-Marianne erschrocken, die nach Rudis geschwinden Abgang schon wieder kleinmütig geworden war.
„Die bleiben hier“, entschied Enrico in Vertretung des bereits abgegangenen Revolutionsführers wacker. „Die klaut uns ganz gewiß keiner bis morgen, und wenn doch, dann wäre das auch nicht so schlimm.“