Stefan 'Sterni' Mösch

Enrico der Verlierer

Eine Erzgebirgstragödie

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Was Enrico in dieser Nacht als wunderbare Wiedergeburt eines längst verloren geglaubten Geborgenheitsgefühls erlebt hatte, sollte sich recht bald als bittere persönliche Niederlage entpuppen, als kurzer trügerischer Genesungsprozeß zwischen zwei Fieberschüben, als nur wenige Momente währendes Verschnaufen vor dem endgültigen Sturz in einen bodenlosen Abgrund. Nachdem nämlich Gerda die finanzielle Oberaufsicht über die gesamten Familienangelegenheiten an sich gerissen hatte, wehte auf einmal ein merklich rauherer Wind, der alle Familienmitglieder zu strengster Haushaltsdisziplin anhielt und sie im Säumnisfalle bzw. bei Widerstand gegenüber dem neuen Familienoberhaupt zu empfindlichen Ordnungsstrafen verdonnerte.

Gerdas durch Rolfs Unterstützung ins Rollen gebrachter Emanzipationstrieb kostete zunächst viele Tränen bei den beiden Kindern, die nun wiederholt Kürzungen und vereinzelt sogar vollkommene Streichungen ihres ohnehin recht knapp bemessenen wöchentlichen Taschengeldes erdulden mußten. Doch Sandra und René gelang es schnell, sich den neuen Machtverhältnissen anzupassen, ja, mit ihrem kindlichen Gespür und Geschick gelang es ihnen sogar recht bald, die neue Gesetzeslage immer häufiger zu ihren Gunsten auszunutzen, denn das „Wohl der Kinder“ stand als Doktrin fortan ganz oben in der Familienagenda.

So war es Enrico, der unter der neuen Erziehungsdiktatur am schwersten und nachhaltigsten zu leiden hatte, denn durch die Transferierung des gesamten Familieneinkommens auf Gerdas Konto waren ihm faktisch alle bisher wahrgenommenen autonomen Rechte ersatzlos gestrichen worden. Er hatte Gerdas Anordnungen ohne Aufmucken bedingungslos zu befolgen, wollte er nicht eine entehrende Strafpredigt vor versammeltem Familienrat riskieren.

Eine gesunde Lebensführung stand ganz vorne im neu eingeführten Familien-Fitnessprogramm. Zu diesem Zwecke hatte sich Gerda mehrfach mit ihrer Busenfreundin Heidi, dem „alten Emanzenluder“, zu Sondierungsgesprächen getroffen. Doch was als Maßnahme für die Gesundung der Familie von den beiden theoretisch ersponnen und entwickelt worden war, verschlimmerte in der Praxis den seelischen Zustand Enricos gravierend. Er verlor durch die vielen neuerdings zu beachtenden Ver- und Gebote sein letztes Fünkchen Lebensfreude und fühlte sich schließlich regelrecht krank und in seinem Kummer allein gelassen. Am schlimmsten wog jedoch, daß er seine Gemütskrankheit strikt geheim halten mußte, daß es keine Medizin und keinen Arzt für sein erneutes Leiden gab. So wurde zum Beispiel sein Alkoholkonsum ersatzlos auf zwei Flaschen Bier pro Tag zusammengestrichen. Um ein heimliches Wiederabgleiten in den Alkoholismus zu verhindern, mußte Enrico seiner Frau den Ersatzschlüssel für seine Kellerwerkstatt aushändigen. Fortan nahm sich Gerda das Recht heraus, jederzeit unangekündigt Werkbankkontrollen durchzuführen, und wehe dem, ein leeres Fläschchen Magenbitter, das er doch von Zeit zu Zeit so dringend für die Aufrechterhaltung seines körperlichen Wohlbefindens benötigte, hatte sich versehentlich in eine dunkle Ecke seines Spindes verirrt. Nur zum gemeinsamen Samstagabend-Fernsehprogramm durfte als Höhepunkt der Woche eine Flasche von Rolfs französischem Rotwein gemeinsam geleert werden. Dazu mußte sich Enrico zu allem Überdruß jedesmal mit anhören, wie gut es doch in letzter Zeit im familiären Kreise geklappt habe, welch aufgeschlossene offene Atmosphäre doch auf einmal das Familienleben beherrsche und welche fulminanten Fortschritte doch eine solch perfekt durchdachte Familienplanung zeitige, wenn man sie nur ein wenig ernst nahm. Enricos Kopf dröhnte jedes Mal entsetzlich, wenn Gerda mit ihrem nervenden Geplapper loslegte, das zu allem Überdruß auch noch durch das erbarmunglose Gedudel volkstümelnder Heimatklänge aus der Röhre verstärkt wurde.
„Und wenn es unserem lieben Vati endlich einmal gelingen sollte, die Kraft aufzubringen, um aus seiner Kanapeeecke herauszukriechen und eine anständige Arbeit zu suchen, dann könnten wir auch wieder einmal in den Süden in den Urlaub fahren. Das stimmt doch, Rolf?“
Rolf, der neuerdings immer häufiger an den trauten Familienfernsehsamstagabenden teilnahm, nickte dann jedes Mal zustimmend, räusperte sich vernehmlich, klopfte Enrico mitleidvoll auf die Schulter und bemerkte dann in der lobenswerten Absicht, seinen alten Freund ein wenig aufzumuntern:
„Da hat deine Gerda ausnahmsweise mal recht. Du solltest dich wirklich nicht wie ein scheuer Pudel andauernd in deine Ecke verkriechen. Wie wäre es, wenn du uns morgen zur Abwechslung einmal auf einem unserer Sonntagnachmittagsausflüge begleiten würdest. Diesmal wollen wir zur Talsperre in P. fahren und anschließend vielleicht noch ein wenig gondeln. Komm doch diesmal mit, ein bißchen frische Luft würde dir bestimmt gut tun, nicht wahr Gerda?“
Enrico brummte dann gewöhnlich nur ein paar unverständliche Worte, die niemand in der fröhlichen Runde zu interpretieren vermochte. Im Grunde war es den anderen auch egal, ob er bei der geplanten Gondeltour dabei war oder nicht, mutmaßte der schlecht gelaunte Enrico insgeheim, der sich in letzter Zeit immer überflüssiger vorkam. Sollten doch die anderen mit Rolfs nagelneuem Schlitten die heimatlichen Berge unsicher machen, er hätte dann wenigstens einen Nachmittag lang Ruhe vor Gerdas nervender Art des Herumkommandierens, die ihm noch schlimmer als die Schikanen der Offiziere damals bei der NVA dünkte. Denn diese hatten ihren Opfern wenigstens zugestanden, ihren Kummer klammheimlich mit etwas Alkohol herunterzuspülen.