Stefan 'Sterni' Mösch
Ein Weihnachtspäckel aus Berlin
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Das von der permanten Krise der Kapitalismus zerrüttete deutsche Land war in jenem Frühjahr von einem weiteren verheerenden Bankenkrach erschüttert worden, der dieses Mal der Binnenwirtschaft einen solchen schweren Schlag versetzte, dass die erst kürzlich an die Macht gekommene bürgerliche Regierungskoalition in die Brüche ging. Hauptsächliche Schuld daran hatte – darüber waren sich im Prinzip alle im Bundestag sitzenden Parteien einig – das neu beschlossene sogenannte Wachstumsbeschleunigungs-Gesetz, das sich in der Praxis als ein wirtschaftlicher Schrumpfungs- und Absturz-Katalysator erwiesen hatte, der seine verheerende Wirkung wie ein Virus in erstaunlich kurzer Zeit entfaltete. Die schockierte Kanzlerin übernahm ausnahmsweise die politische Verantwortung für das Desaster, schnappte ihren Hut und suchte sich einen gut bezahlten Job in der angeschlagenen Energiewirtschaft, die von ihrem Vorgänger vorsorglich privatisiert und zu einem Versorgungsinstitut für an- und abgeschlagene Politiker umgewandelt worden war. Ein von den Linken angestrengter Misstrauensantrag im Parlament sorgte dafür, dass binnen eines Monats vorgezogene Neuwahlen durchgeführt werden mussten.
Als eindeutiger Sieger ging dabei erstaunlicherweise die FDP aus dem Rennen hervor. Ihrem gerissenen Vorsitzenden war es nämlich gerade noch rechtzeitig gelungen, zum populistischen Frontalschlag gegen seinen einstigen Koalitionspartner auszuholen. Mit dem Slogan „Wär' die Wirtschaft ganz privat, gäng's uns gut auch ohne Staat“ und dem Versprechen, alle noch verbliebenen Reste an gesellschaftlichem Eigentum schnellstens zu privatisieren – ausgenommen natürlich die ererbten Staatsschulden – und die auf diese Weise erzielten Gewinne umgehend an das Volk zu verteilen, gelang Guido ein verblüffender Coup, der die Voraussagen aller einschlägigen Politikprognostiker ad absurdum führte. Dass die Wahlbeteiligung nur schlaffe 20 % betragen hatte, tat nur wenig zur Sache, denn gewonnen ist nun mal gewonnen und Nichtwähler sind allemal selber daran Schuld, wenn sich mit ihrer indirekten Unterstützung irgendwelche zwielichtigen Elemente an die Schalter der Macht manövrieren, mit denen man just und gerade am wenigstens gerechnet hat. Ebensowenig kümmerte es die neuen Regierenden, dass es im Sommer zu Radauen verbunden mit schweren Straßenschlachten kam. Es war nämlich mittlerweile herausgekommen, dass das zu privatisierende Staatsvermögen proportional zum jeweils erzielten persönlichen Einkommen der Staatsbürger aufgeteilt werden sollte, denn Leistung sollte sich ja nun endlich wieder in unserem Lande verlohnen.
Nach erfolgreicher polizeilicher Niederknüppelung der vom Ausland angezettelten Hungerrevolte – den Einsatz von regulären Armeeeinheiten hatte der neue Kanzler mit Hinweis auf die immer geltenden demokratischen Grundwerte glücklicherweise noch einmal verhindern können – kehrte wieder gespannte Ruhe im Lande ein. Alsdann wurden die versprochenen Privatisierungsmaßnahmen eiligst in die Realität umgesetzt, so dass man bereits im Herbst von einem Ableben des Staates als einer fiskalisch aktiv handelnden juristischen Person sprechen konnte. Die in den Bundestag gewählten Politker trafen sich zwar auch noch weiterhin regelmäßig zum Palavern, waren nun aber hauptsächlich damit beschäftigt, ihre soeben verliehen bekommenen Gewinnanteile an den Börsen zu verwalten und gegen die grassierende Krise abzusichern. Jeder Staatsbürger war fortan für sein Wohlergehen selbst verantwortlich, die Arbeitsämter wurden durch private Jobagenturen abgelöst und der staatlich vorgeschriebene Versicherungszwang wurde aufgehoben und durch eine freiwillige private Gesundheits-, Alters- und Sozialvorsorge ersetzt. Zudem konnte nun ein jeder Unternehmer endlich selber frei entscheiden, was er mit seinen Millionen anfangen wollte, ohne dass ihm irgendeine gemeine staatliche Kontrollbehörde oder die Gewerkschaften ins Geschäft pfuschten.
Dies war also die gesellschaftliche Situation in meinem Heimatland, als ich Anfang Dezember als ein von den neuen Liberalisierungsgesetzen profitierender Volkskünstler beschloss, ein Weihnachstpäckchen an die verarmte Verwandtschaft in das Erzgebirge zu senden. Ich kaufte hierfür in Kreuzberg einen echt anatolischen Weihnachtsbutterstollen, der angeblich ein Jahr lang konservierbar war und packte ihn in einen Schuhkarton. Dann startete ich bei Google eine Internetrecherche, um herauszufinden, welche privatisierten Postagenturen überhaupt noch in der Haupstadt existierten, denn die alten Staatsfilialen waren inzwischen alle abgerissen bzw. zu Heilsarmeezentren umkonstruiert worden. Schließlich stieß ich auf einen Paketannahmedienst in Berlin-Wedding, den ich notfalls auch zu Fuß erreichen konnte, denn bei den privatisierten Verkehrsbetrieben wurde gerade gestreikt, nachdem der neue Besitzer, ein saudi-arabischer Weihrauchhändler, seinen zum Schnupperpreis übernommenen Angestellten den Tarif aufgekündigt und die Löhne halbiert hatte. Im Kleingedruckten des Paketdienstes „Inshallah Parcels Delivery Ltd.“ entdeckte ich zu meiner Freude ein „Sonderangebot für Frühaufsteher!!!“, das den vertrauenvollen Kunden folgendes lukrative Angebot unterbreitete:
Alle Pakete nur noch zum halben Beförderungspreis!!
(an jedem zweiten Donnerstag von 5 Uhr 30 bis 6 Uhr 29 Happy Hour in unserer Filiale! Natürlich ohne jegliche Gewähr).
Da es gerade Mittwoch, der 8. Dezember war, beschloss ich hurtig, meine Gewinnchance zu nutzen und stellte am Abend vorsorglich den Wecker, um mich am Donnerstagmorgen in aller Frühe mit meinem Päckchen auf die Socken zu machen.