Stefan 'Sterni' Mösch

Ein Weihnachtspäckel aus Berlin

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Ich hatte wohl Glück im Unglück gehabt. Als ich mich nach dem Einbiegen in zwei Seitenstraßen für einen Moment in meiner Rennerei innehielt, um mich verstohlen umzublicken, konnte ich zu meiner Erleichterung feststellen, dass mich meine imaginisierten blutrünstigen Verfolger inzwischen wohl verloren haben mussten. Ich drosselte also mein Tempo, um meinen rasenden Puls autosuggestiv zu beschwichtigen und natürlich auch, um neue Pläne zu fassen, das Schicksal meines anatolischen Weihnachtsbutterstollenpäckchens betreffend. Nach kurzer reiflicher Überlegung beschloss ich, am nächsten Morgen persönlich per Bahn ins Erzgebirge zu fahren. Ich könnte ja meine Gitarre mitnehmen, um durch das Singen von ein paar frommen Liedern im Weihnachtsland die Kosten für mein Ticket wieder einzuspielen. Eine wirklich tolle Idee, fand ich sogleich, die, sollte sie sich wirklich realisieren lassen, mir keinetlei Ausgaben, sondern im Gegenteil voraussichtlich eine saftige Gewinndividente bescheren würde.

Leider versäumte ich es am Abend, nochmals meinen Computer zu konsultieren, denn dann hätte ich erfahren, dass man bei dem Aktienunternehmen „Central European Railways“, einer Firma mit Hauptsitz in Los Angeles, und gleichzeitig einstweilige Rechtsnachfolgerin der „Deutschen Bundesbahn i.A.“, Tickets zum Normalpreis nur online, am Serviceschalter aber nur gegen einen saftigen Aufpreis von mindesten 20 % erhalten konnte.

Ohne etwas Böses zu ahnen, lief ich am nächsten Morgen wohlgemut zum Bahnhof Friedrichstraße, die Gitarre unter dem Arm geklemmt und einen großen Rucksack voller ungewaschener Wäschestücke für Mutti nebst meinem Geschenk für die verarmte Verwandtschaft im Gebirge auf dem Rücken. Ich freute mich schon auf den Genuss des von mir vorsorglich dazugepackten Sechser-Packs Sparbier, das ich mir in Bälde in einem gemütlichen Waggonabteil zu Gemüte führen wollte. Durch eine adrett ausschauende Servicepoint-Mitarbeiterin wurde ich nach einer halben Stunde Anstehen ungemein freundlich lächelnd begrüßt. Die lange Wartezeit hatte mich nicht verdrossen. Schließlich herrschte ja ein reger Personenverkehr zur Adventszeit, dem auch mit aller menschenmöglichen privatgewinnorientierten Raff-Finesse nur mühsam zu Halse gerückt werden konnte.

„Bitte ein Ticket nach Aue, Mademoiselle, der weltweit bekannten Erzgebirgsmetropole“, wisperte ich verlegen, nachdem mich die mir wie eine Märchenprinzessin erscheinende Dame vom Dienst nach meinem Begehr gefragt hatte.
„Bis Aue Hauptbahnhof oder bis Haltepunkt Stadion Lössnitzgrund“, tönte es lieblich schallend zurück. Ich war wirklich überrascht, welch liebreizendes und charmantes, zugleich aber auch flottes und gut geschultes Personal sich die Bahn neuerdings zu leisten vermochte, obwohl mir der Begriff „Hauptbahnhof“ für die heruntergekommene Ruine, die viele Jahre lang als schmutzige Visitenkarte Aues fungiert hatte und erst vor wenigen Monaten abgerissen worden war, doch ein klein wenig übertrieben erschien.
„Bitte bis zum Hauptbahnhof“, antwortete ich im optimistischen Nonchalance-Tone. „Ihr Service hier ist ja wirklich ausgezeichnet, mein Rapunzel.“ Ich fühlte mich ganz verzaubert, die Schalterfee besaß wirklich ein prächtiges rotes und lang wallendes Haar, das ich allzugerne benutzt hätte, um als Märchenprinz hinauf in ihre Turmkeremate zu steigen.
„Tja, wir sind eben zu einem kundenfreundlich orientierten Unternehmen mutiert worden“, ließ sich die charmante Maid nun freundlich lächelnd vernehmen. „Um eines unserer reservierten Spartickets zu bekommen, hätten sie natürlich schon vor zwei Wochen vorbeischauen oder wenigstens an dem vom ADAC veranstalteten Gewinnspiel teilnehmen müssen. Am billigsten kämen sie zur Zeit mit einer Fahrkarte nach Prag, die wir von diesem Jahr an alljährlich ab dem 11.11. 11 Uhr 11 täglich von 11 Uhr 11 bis 11 Uhr 22 als Sonderangebot anlässlich der närrischen Jahreszeit unserer trauten Stammkundschaft zum Verkauf anbieten.
Ich schaute auf meine Uhr. Das lange Ausharren in der Warteschlange hatte sich für dieses Mal für mich gelohnt, denn es war gerade eben 11 Uhr 15 geworden.
„Das ist ja wirklich toll, aber eigentlich will ich ja gar nicht nach Prag, sondern bloß nach Aue.“
„Das tut uns aber leid“, gurrte da mein verwunschenes Prinzesschen mit plötzlich leicht verworfen anklingendem Timbre im Unterton und reichte mir eine rote Pappnase.
„Dafür bekommen Sie aber heute dieses kleine Präsent von uns, persönlich unterzeichnet von unserem Regionalchef, und zwar gratis. Sie möchten also einen Normal-Fahrschein nach Aue? Das ist aber ungewohnlich. Ich nehme doch an, dass sie auch gleich die Rückfahrt mit lösen werden, damit könnten Sie ein Drittel des Fahrpreises sparen, vorausgesetzt natürlich, sie sind bereit, eine von uns für Sie persönlich ausgewählte Verbindung zu nutzen.“
„Was bedeutet denn das schon wieder?“, erdreistete ich mich verlegen zu fragen, denn leider hatte ich nur knappe 60 Euro in der Tasche - und das würde wohl keinesfalls für zwei Fahrten reichen. Ich wollte mir ja erst im Erzgebirge ein wenig überschüssiges Cash erspielen.
„Das bedeutet, dass wir Ihnen per Computer eine ganz bestimmte Fahrverbindung innerhalb der nächsten drei Wochen heraussuchen, die sie dann für ihre Rückfahrt benutzen müssten. Den genauen Zeitpunkt und die Fahrtroute legen natürlich wir fest, da unser Super-Spar-Angebot speziell während der Weihnachtsfeiertage nur sehr begrenzt ist und wir es doch am allerbesten wissen, in welchen Zügen noch ein Platz für Billigreisende frei ist.“
„Würden denn dafür 60 Euro reichen?“, wagte ich mich jetzt höflich bei meiner Traumfrau zu erkundigen.
Auf dem bis dahin so fröhlich einherschauenden Gesicht machte sich plötzlich ein leichter Schatten bemerkbar. Wie die Prinzessin auf der Erbse, die soeben entdeckt hat, dass man ihr etwas Unangenehmes unter die Bettdecke geschmuggelt hat, ermahnte sie mich nun in leicht grollendem Tonfalle:
„Wenn Sie etwa glauben, Sie könnten noch von unserem Nikolaustags-Sonderangebot profitieren, dann irren Sie sich gewaltig. Ein einfaches Ticket bis nach Aue – natürlich nur in Regionalzügen – kostet bei uns zur Zeit 69 Euro 89. Sie wissen ja, es ist Adventszeit, da steigen überall die Preise. Wenn Sie bereit sind, unser verbilligtes Rückfahrtsangebot zu nutzen, dann bezahlen Sie insgesamt nur 93 Euro 32. Nutzen Sie also ihre Chance, denn preiswerter wie bei uns geht es wirklich nicht.“
Sie kramte unter ihrem Schalter herum und brachte einen Plastikblumenstrauß zum Vorschein. Sie grinste dabei breit über ihr gesamtes Gesicht wie ein boshafter Troll, dem soeben ein ausgemachter Schabernack gelungen ist.
„Der ist für Sie, denn wie ich gerade auf meinem Computerbildschirm sehe, sind Sie heute unser 999. Bahnkunde in Berlin. Deshalb bekommen Sie auch noch 10 Euro von ihrem Ticketpreis geschenkt. Ist das nicht toll?“
Das war wirklich toll! Ich holte schnell meine Geldbörse aus der Hosentasche, um mein momentanes Barvermögen noch einmal schnell durchzuzählen. Ich besaß genau 59 Euro 92, die ich der Märchenfee sogleich vor die Nase schüttete.
„Also ein Einfachticket nach Aue Hauptbahnhof, ohne Rückfahrt aber mit den zehn Euro Ermäßigung als ihr neunhundertneunundneunzigster Tageskunde. Die drei Pfennig Rest sind natürlich für Sie.“
Ein vernehmbares Räuspern kündete davon, dass mein Service-Engel keineswegs mit meiner prompten Bezahlung zufriedengestellt war. Sie sah jetzt auch gar nicht mehr aus wie ein solcher, sondern viel eher wie eine brüskierte Königin, der man plötzlich zu nahe getreten ist und die sich daher fürchtet, dass man ihre mit Pommade übertünchten zarten Fältchen im Gesicht entdecken könnte. Leicht sarkastisch und um eine deutliche Distanz mir gegenüber bemüht äußerte sie nach einer kurzen Kunstpause verstellt seufzend:
„Mein Herr, darf ich Sie freundlichst darauf hinweisen, dass natürlich zu dem ermäßigten Ticket von 59 Euro 89 noch eine Schaltergebühr von 20 Prozent dazukommt, denn wir müssen ja auch von etwas leben.“
„Zwanzig, waaaas?“, schrie ich entgeistert, dabei so große Augen machend, wie weiland der Wolf im Märchen vom Rotkäppchen, nachdem er mitbekommen hat, dass ihm nach seiner Betäubung von böswilligen Leuten schwere Wackersteine anstatt des zarten Fleisches in den hungrigen Bauch manövriert worden waren. Aber das dereinst so unschuldig dreinblickende Rotkäppchen, das wohl mittlerweile längst einen Managementkurs zur Gründung eines scheinselbständigen Unternehmens absolviert hatte, blieb hart und unerbittlich.
„Das macht also summarum genau 71 Euro 90, mit Trinkgeld als glatte 72 Piepen, wenn es dem gar so sparsam daherkommenden Gentleman genehm ist.“
Genehm war mir schon lange nichts mehr. Ich stieß ein wahres ur-erzgebirgisches Wolfsgeheul aus und ließ meine hart ersparten Groschen wieder flugs in meiner schmalen Geldbörse verschwinden.
„Damals, in der guten alten Zeit, da bezahlte man noch siebzehn zwanzig Ostmark für eine Fahrt von Berlin nach Aue, und zwar ohne ein einziges Mal umsteigen zu müssen und egal, ob an einem Wochen-, Feiertag oder zu Halloween, sie blöde aufgetakelte Schnepfe. Aber das können Sie ja alles gar nicht wissen, weil Sie damals noch nicht aus ihrem Ei geschlüpft waren. Ich danke für den kundefreundlichen Service. Auf Nimmerwiedersehen, Sie rote Feuerteufelin!“
Ich drehte mich um, um die hohen Hallen des inzwischen ach so heruntergekommenen einstigen nationalen Bahnunternehmens schnellstmöglich zu verlassen, hörte aber noch während meines ungalanten Abgangs, wie die demaskierte böse Fee mir hämisch-schnippisch hinterrief:
„Dann fliegen sie doch, Sie Schluchtenjodler!“