Stefan 'Sterni' Mösch

Ein Weihnachtspäckel aus Berlin

4

Natürlich wäre ich jetzt am liebsten geflogen, genau wie mir die böse Hexe am Schalter nachgehöhnt hatte. Doch flog ich zunächst einmal hinaus ins Freie, und zwar ganz kräftig auf mein Hinterteil, da ich in meiner Hast nicht auf das Eis, das den Bahnhofsvorplatz bedeckte, nicht beachtet hatte. Verschämt klopfte ich den Straßendreck von meinen Hosen, während mich ein Grüppchen Clochards mit Bierflaschen in der Hand amüsiert betrachteten. Ihr Hund fing an zu bellen und hätte sich wohl auf mich gestürzt, hätte sich nicht einer der rauhen Gesellen schnell dazwischengestellt, um seinen Köder mit einem Fußtritt wieder zur Raison zu gemahnen.

Betrübt und entmutigt ergriff ich meinen Gitarrenkoffer, der mir beim plötzlichen Sturz aus den Händen entglitten war, um mich wieder auf den Heimweg zu machen. Dabei stieß ich wiederholt mit Passanten zusammen, denn ich richtete meine Blicke fortwährend nach unten, weil ich mich vom Eise auf dem Fußsteig in meiner persönlichen Sicherheit bedroht fühlte.

Auf einmal klopfte mir irgendjemand ziemlich kräftig auf den Rücken. Ungehalten drehte ich mich um, mit der Absicht, den rücksichtslosen Spaßvogel eine Ohrfeige zu verabreichen, denn ich war momentan gar nicht in der Laune, mich durch irgendwelche blöden Streiche foppen zu lassen. Ein mageres Bürschchen mit vergoldeten Pappflügelchen auf dem Rücken hielt mir unschuldig lächelnd ein Blatt Papier unter die Nase:
„Los, das musst du lesen! Du siehst doch auch aus wie einer, der so schnell wie möglich diesen Moloch verlassen möchte, um einfach ins Blaue zu entfleuchen.“
Diesem jungen Mann konnte man einfach nicht böse sein. Ich nahm also seinen Zettel und dankte ihm mit einem leichten Kopfnicken, ehe ich verzagt weitertrottete. Eigentlich hatte ich vorgehabt, das zusammengeknüllte Papier in meiner Hand in den nächsten Papierkorb zu werfen, doch dann glättete ich es wieder, von einer unerklärlichen Neugierde getrieben.

„EUROPAWEITES ANGEBOT!!!!

Last-Minute-Tickets von Xmas Airs

für nur 19,90 Euro

Wohin Sie auch heute noch wollen! Natürlich einschließlich der Extra-Fahrtkosten an jeden beliebigen Ort im Umkreis von 200 Kilometern von unseren Landeplätzen.“

Auf der Rückseite klebte wirklich ein echt aussehendes Flugzeugbillett, das angeblich dazu berechtigte, bis 24 Uhr einen Flug mit einer Maschine der Xmas Airs, die im stündlichen Takt nach allen Himmelsrichtungen abgingen, zu benutzen. Das konnte doch nicht wahr sein. Das war sicherlich wieder einmal so ein blöder Werbescherz zur Adventszeit. Trotzdem machte ich sofort eine Kehrtwende um 180 Grad, um mich auf die Suche nach den dürren Kerl zu machen, der sicherlich noch irgendwo in der Nähe aufzufinden sein musste. Wirklich, da drüben stand er, in einem erregten Gespräch mit einer fetten Frau begriffen, die zwei schwere Koffer an ihrer Seite abgestelllt hatte. Ich stürzte mich von hinten auf ihn, um ihm nun meinerseits die Faust auf die schmale Schulter zu poltern. Ohne im mindesten zu erschrecken, drehte er sich sofort zu mir um, als hätte er meinen plötzlichen Überfall schon längst erwartet. Er strahlte förmlich, als er sich naiv auflachend an mich wendete:
„Na, haben Sie es sich schon überlegt? Das Angebot gilt aber nur bis heute Nacht. Also sputen Sie sich, damit Sie noch rechtzeitig nach Tempelhof kommen.“
Es war also wirklich wahr. Dieser unschuldige Bursche vor mir konnte unmöglich lügen, das sah man sofort seinen offenen Augen an. Ich umarmte ihn spontan und rannte dann zum nächsten Taxi, das gerade um die Straßenecke gebogen kam.
„Schnell zum Flughafen Tempelhof“, rief ich dem erschrockenen Chauffeur zu, mich sogleich auf den Rücksitz seinens Wagens stürzend.

Der Junge vor dem Bahnhof hatte wirklich Recht gehabt. Es dauerte nicht lange, und schon saß ich eng gedrängt in einer uralten Flugmaschine, einer sowjetischen IL 18 aus den 60er Jahren des letzten Jahrhunderts, die mich nun in meine erzgebirgische Heimat bringen sollte. Neben, hinter und vor mir lauter Russen, Vietnamesen und andere Ausländer, die alle via Karlsbad in ihre Heimatländer zurückkehren wollten. Eine Frau saß sogar noch im Pyjama, da sie wohl die frohe Botschaft heute morgen im Bett erhalten und danach nicht mehr die Zeit gefunden hatte, sich ordentlich umzuziehen. Ein orthodoxer Priester hielt eine kurze Ansprache und besprühte dann mich und die anderen todesmutigen Insassen mit Weihwasser. Ich ließ mir sein Tun gerne gefallen, denn ein wenig kirchlicher Segen mochte dienlich sein, unser kleines, arg schwankendes Flugmobil sicher an seinen Bestimmungsort zu bringen.

Der Flug gedieh wirklich vortrefflich und alle waren bester Stimmung. Auch die kleine Werbeveranstaltung, die zum Kauf sibirischer Bärenpelze animieren sollte, ließ ich mir gerne gefallen, schließlich gab es dazu Wodka Gorbatschow und zwar aus Sto-Gramm-Schnaps-Gläsern, wie es nun einmal seit jeher bei unseren Freunden aus dem Osten üblich ist. Ich bekam sogar noch ein zweites Glas in die Hand gedrückt, nach dessen Leerung ich ziemlich schnell müde wurde. Als ich gerade über dem Einnicken war, wurde ich auf einmal ruppig wach gerüttelt. Neben mir stand die alte Matrone, die mich schon beim Einsteigen mit einem kräftigen Händedruck an Bord begrüßt hatte und die ihrer Uniform nach, auf der fünf Reihen pompöser Orden prangten, wohl die Stewardess der Maschine sein musste.
„Mein Herr, Sie müssen in zehn Minuten aussteigen. Machen Sie sich also bitte bereit.“
„So schnell“, erwiderte ich gähnend. „Ich nehme doch an, dass ich mit den anderen in Karlsbad aussteigen muss, um dann mit dem Zug zurück …“
„Sie wollten doch wohl bis nach Zschorlau fliegen? Da brauchen Sie doch gar keinen solchen großen Umweg zu machen. Kommen Sie doch einmal mit nach vorne ins Cockpit, da können wir am besten Ihr kleines Problem klären.“

Ich war wirklich überrascht, wie gut die schon ziemlich weit in die Jahre gekommene Dame der deutschen Sprache mächtig war. Ihrem Aussehen nach war sie gewiss eine Russin, die schon seit der Indienststellung des alten Flugzeuges ihre Servicedienste versah. Ein wirklich gutes Zeichen dafür, dass es anscheinend bisher zu keinen größeren Katastrophen mit der Maschine gekommen war. Die alte Stewardess klopfte dem Piloten auf den Rücken, einem bärtigen Greis, ungefähr doppelt so alt wie sie, der ganz sicher schon im Zweiten Weltkrieg Bombereinsätze geflogen hatte. Auch das konnte mich nicht erschrecken. Schließlich wusste ja ein jeder, dass man in Russland bisweilen sehr alt wird und mitunter auch erst mit neunundneunzig Jahren seine Fahrerlaubnis macht. Die beiden alten Leutchen begannen ein anregendes Gespräch auf Russisch. Schließlich griff der angegraute Flugzeugführer unter seinen Sitz, um von dort eine Halbliter-Wodka-Flasche zum Vorschein zu bringen. Er nahm einen kräftigen Schluck und reichte sie dann an mich weiter.
„Dawai, trinken Sie towarischtsch. In zehn Minuten müssen Sie aussteigen. Den Fallschirm wird Ihnen Olga natürlich anlegen. Da, da da.“
Er bekam einen leichten Hustenanfall, von dem das kleine Flugzeug in mächtige Turbulanzen geriet.
„Fallschirm? Das ist ja wohl ein Witz“, kicherte ich nervös, doch ich sollte mich getäuscht haben, denn schon wurde mir von der Stewardess ein Sack um den Leib geschnürt. Dann wurde ich nochmals eindringlich ermahnt:
„Das ist Ihr Fallschirm. Sie müssen wirklich nur an diesem Nippel ziehen, aber zählen Sie zuerst langsam bis zehn.“
Jetzt bekam ich eine dicke Pelzmütze auf meine Bärenmähne gedrückt.
„Sie sollen ja nicht frieren. Heute ist es nämlich draußen sehr kalt. Aber keine Angst, die Firma, für die wir dieses neu entwickelte Modell erproben sollen, hält das Produkt für einen wahren Verkaufsschlager, bei jedem Wind und Wetter ganz ohne Risiko einsetzbar.“
„Aber ich will doch gar nicht abspringen. Nehmen Sie mich doch bitte noch bis nach Karlsbad mit, die Zugfahrt bis nach Aue werde ich dann auch gerne aus meiner eigenen Tasche bezahlen“, versuchte ich auf diplomatische Weise meinem zugedachten Schicksal zu entfliehen.
„Njet, njet“, hörte ich da vom Steuer vorne den Weltkriegsveteranen schimpfen. „Olga, dawaij, dawaij, wir sind gleich da.“
„Ich kann Sie beruhigen“, versuchte die Stewardess, mir Mut einzuflößen. „Wir befinden uns auf einem Nonstop-Flug nach Moskau, und auch die andern Fluggäste werden bald abspringen müssen. Sie sind der erste. Seien Sie stolz darauf. Juri Gagarin ging es damals auch nicht anders! Also machen Sie schon hin“, fügte sie nach einer kurzen Pause schon viel strenger geworden hinzu.
Mit diesen Worten drückte sie mir meinen Gitarrenkoffer in die Hand, während ich mit meiner anderen Hand den Rucksack mit meinem anatolischen Weihnachtsbutterstollen umklammerte. Aber wie sollte ich denn so voll bepackt den Fallschirm-Öffnungsstrick betätigen können, fiel mir plötzlich ein. Ich wagte also nochmals zu protestieren, erneut ohne jeglichen Erfolg. Nur eine Schwimmweste wurde mir noch gewährt, die ich für eine eventuelle Notlandung auf dem nahe gelegenen Filzteich benutzen sollte.

Ehe ich mich versah, war ich von Babuschka in eine finstere Ecke geleitet worden, unter der sich eine verborgene Falltür befand, wie ich sogleich am eigenen Leibe erfahren musste. Ich hörte nur noch ein „Doswidanja“ und ein schallendes Gelächter hinter mir, dann befand ich mich bereits im Flugkanal und eine halbe Sekunde später im Orbit. Mir verblieb nicht einmal die Zeit, mich ordentlich von den anderen Fluggästen zu verabschieden. Mein schrecklicher Absturz in die unendlichen Tiefen des erzgebirgischen Pultschollen-Mittelgebirges begann. Noch niemals war es mir so klar bewusst geworden, wie flach in Wahrheit mein geliebtes Erzgebirge ist. Und jetzt fiel mir zu guter Letzt auch noch ein, dass den Winter über das Wasser des Filzteichs abgelassen wurde. Was sollte ich also mit dieser verflixten Schwimmweste eigentlich anfangen, die man mir da oben zwangsweise umgegurtet hatte? Da plötzlich hämmerte es durch meinen Kopf, dass ich ja auch noch ganz dringend die Reißleine zur Öffnung meines Fallschirmes betätigen musste, denn inzwischen waren bestimmt schon zehn mal zehn Sekunden Absturzzeit vergangen. Ich geriet in Hektik. Ich hatte total vergessen, wie das Ding funktioniert. Und mein Fall beschleunigte sich einstweilen die ganze Zeit über um 9,81 Meter pro Sekunde im Quadrat. Ich musste also meinen flinken Berechnungen nach schon in ziemlich knapper Höhe als Sterni-Schnuppe über dem Kaff Aue zu sehen sein. Wenn es mir nicht gelänge, innerhalb kürzester Frist meinen Fallschirm zu öffnen, dann war ich unwiderruflich verloren. Welch eine Schande für den Herstellungsbetrieb des Fallschirms! Bei einer deutschen Qualitätsproduktion wäre das ganz sicher nicht passiert! Aber ich konnte doch beim besten Willen nicht meinen anatolischen Weihnachtsstollenbeutel fallen lassen, um eine Hand für den Reißgurt freizubekommen, noch viel weniger meine teure Lederer-Gitarre aufgeben, meinem einzigen Reichtum, den ich noch auf dieser in Dekadenz verfallenden Welt besaß, Was tun?! Ich flog und flog ...

Dann schrie ich entsetzt auf. Mein Wecker hatte gerade zu läuten angefangen, um mich zu ermahnen, dass ich auf keinen Fall meinen Termin beim Arbeitsamt versäumen solle.

Schweißüberströmt sprang ich aus dem Bett, immer noch geschockt von dem Schreck. Denn die Folgen eines nicht wahrgenommenen Arge-Termins würden wohl noch viel katastrophaler ausfallen, als ein solch kleiner geträumter Absturz aus einem russischen Flugzeug. Deswegen Doswidanja, towarischtschi, ich muss mich sputen!